29. September 2011 im Theater in der Washingtonallee, dem kleinsten Theater Hamburgs: Noch bis Dezember nehmen Diogenes und (Philo-)Sophia, die wahrlich die Schwester des Staunens ist, die Zuschauer mit auf ihre philosophische Gefühlsachterbahn. Die Wandlungsfähigkeit der Darsteller hinterlässt einen tiefen Eindruck und weitet Herz und Verstand.
Wie haben wir sie genossen, diese von Angelika Landwehr ersonnene und ausgearbeitete Liebeserklärung an Diogenes, an die Weisheit, an Griechenland und an die Natur, deren ungezähmtes, reines Wesen uns so tief berührte, dass die naturgemäß schlicht gehaltene Kulisse im kleinsten Theater Hamburgs schon nach wenigen Minuten vor unseren Augen und in unseren Herzen zum heißen griechischen Strand wurde. Das intensive und überzeugende Spiel Angelika Landwehrs und Stavros Mouratidis schaffte dies mit Leichtigkeit – ausgestattet mit Empathie und einem Mindestmaß an intrinsisch genährter Wachheit gerät man als Zuseher rasch in einen emotionalen Sog, dem man sich bis zum Ende des Stückes nicht mehr entziehen kann. Dies wird auch durch ein hohes Maß an räumlich bedingter Intimität mitgetragen, die wir in dieser überaus faszinierenden Form in noch keinem anderen Theater erlebt haben und die den Besucher zu einem untrennbaren Teil des Erlebten werden lässt, wenn er es zulassen kann und will.
Ein unter die Haut gehendes philosophisches Schauspiel, das bewegt und vor allem zum Nachdenken anregt. So nehmen uns die an der Scheide zwischen materieller und bloß metaphorischer Existenz wandelnde Sophia und ihr Liebhaber Diogenes mit auf eine mentale Entdeckungsreise, auf der es zu ergründen gilt, ob tatsächlich unter jedem Stein Griechenlands ein Philosoph zu finden ist. Was ist es, das wir so an den alten Philosophen der Antike bewundern? Waren sie nicht auch vom Schubladendenken infiziert? War ihnen bei aller Weitsicht nicht auch regelmäßig die Sicht auf die Dinge direkt vor ihren Augen versperrt? Wie war es denn möglich, von Demokratie zu sprechen, wenn Sklaven für den Wohlstand und das Luxusleben sorgten und Frauen überhaupt nichts zu sagen und schon gar nicht zu denken hatten? Wo war die Gleichberechtigung in dieser Art von Demokratie, die wohlgepriesen als die Wiege unserer modernen Demokratie gilt? Wiewohl es auch heute nicht an Ungerechtigkeit und Diskriminierungen vielfältiger Art mangelt.
Sophia sucht weibliche Philosophen in Griechenland vergebens und diskutiert mit Diogenes über die Weisheit von Menschen, die gut fünfzig Prozent der nicht versklavten Bevölkerung kategorisch ausgrenzen. Und: War der „Hund“ Diogenes denn anders? Macht und materieller Reichtum galten ihm nichts, verwies er doch Alexander den Großen bloß aus der Sonne, als ihm vom großen Imperator ein beliebiger Wunsch freigestellt worden war. Dies zeugt zumindest von einer erfreulichen egalitären Grundhaltung. „Eine gleichgestellte Frau wird überlegen.“, sagte Sokrates, doch leider ist es ihm nicht gelungen, den Männern seiner Zeit die Angst vor dieser Überlegenheit zu nehmen. Und ist diese Angst denn heute aus den Köpfen der Männer verschwunden? Warum wirkt fast jede Frau, die es in unserer modernen Gesellschaft wirklich „an die Spitze“ schafft, männlicher als viele ihrer zeitgenössischen Männer und verleugnet ihre Weiblichkeit, oder schämt sich ihrer sogar? Sind nicht viele alte Denkweisen über Frauen, ihre beschränkten Geistesfähigkeiten und die ihr zustehenden Rollen in unserer Gesellschaft noch immer Bestandteil des Denkens, tief verwurzelt in den Köpfen des heutigen Menschen?
Diotima behauptete in Platons Dialog Symposion, dass es ein Mittleres zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Weisheit und Unwissenheit gibt. Sie brachte Sokrates, der laut Überlieferung viel von ihr gelernt hat, damit schwer zum Nachdenken. Fühlen, das intuitive Handeln, ist Bestandteil einer eng mit Weisheit verknüpften Spiritualität, die leider gerade Männern oft (noch) fehlt und ist es nicht gerade eben eine von Dogmen und Konditionierungen befreite Spiritualität, die einen wahrlich Weisen, einen Philosophen ausmachen sollte? Die Weisheit der Natur, der Liebe, des Lebens sollte damals wie heute mehr gelten als das vermeintlich bedeutsame Wissen über die richtige Kriegsstrategie oder über ebenso schlaue wie rücksichtslose und mit Implikationsblindheit geschlagene Wege, noch mehr Geld anzuhäufen, in einer an fehlgeleiteten Werten orientierten Wegwerfgesellschaft, die vielleicht in der Rückschau einmal „The Age of the Stupid“ heissen mag. Wer diese Weisheit erreicht hat, versteht die von Sokrates thematisierte Überlegenheit der gleichgestellten Frau völlig anders, nämlich in jenem ganzheitlichen, relativierenden und erhaltendem Zusammenhang, der sich aus dem harmonischen Wechselspiel der männlichen und weiblichen Kräfte ergibt, wie es in der Natur vielerorts zu beobachten ist.
Wenn Diogenes an sich zweifelt, stärkt ihn die Weisheit an seiner Seite mit den Worten: „Diogenes – Du bist Licht – ein Feuer – das bist Du!“ Wir können nur zustimmen. Stavros Mouratidis als Diogenes warnt uns nicht nur davor, die Finger von den Fleischtöpfen der Mächtigen fernzuhalten, auch verspricht er, „Die Menschen werden sich finden, wenn sie ihre Seele finden.“ Angelika Landwehr hat die Geschichte der griechischen Philosophie in einen geistreichen wie auch kritischen Kontext zu den gesellschaftlichen Vorgängen der Gegenwart gebracht und ein beachtliches modernes Theaterstück geschaffen. Die Inszenierung des Werkes überzeugt in allen Belangen, die mit ihr transportierte Intensität und Intimität verhelfen zu einem ganz besonderen Theatererlebnis, das sich insbesondere emotional offene, wache und gesellschaftskritische Menschen nicht entgehen lassen sollten. Uns bleibt nur noch, zunächst das Glas mit dem Trinkspruch des Stücks, „Auf das Leben, auf die Freiheit und auf die Liebe“, zu erheben und uns die Gänsehaut erzeugende Proklamation „Wir sind erwacht!“ für möglichst viele Menschen zu wünschen; „ELLADA – Griechenland und die Liebe des Diogenes“ liefert dazu in jedem Fall einen sehens- und spürenswerten Beitrag!
Laila Mahfouz und Anders Balari, 4. Oktober 2011
Links:
Die Homepage des Theaters finden Sie hier: www.theaterwashingtonallee.de
Auf Facebook findet man auch die Seite zum Theaterstück: www.facebook.com/event.php?eid=259068134127671
Hier geht’s zu einer Fotostrecke des Stücks.
Mehr zum Thema „Frauen und Philosophie“ unter: Dr. Alois Reutterer
Mehr über die Autorin unter www.lailamahfouz.de
Mehr über den Co-Autor und Photographen unter www.431verstaerker.de