Einige allgemeine Eindrücke von der diesjährigen Zelebration des Buches in Leipzig: Zur Widersprüchlichkeit zwischen der Aussage einer Nominierung und deren völliger Missachtung im Rahmen der Messe. Über den fragwürdigen Besucherrekord. Zum Expertentum. Und über kommende Berichte.
Fehlende Fragen zu fehlenden Optionen
Die Glashalle am vergleichsweise sehr "schlecht" besuchten Freitag. ©Anders Balari.
„Anständig essen“ ist der Titel des neuen Sachbuchs von Karen Duve. Die Nominierung ihres Werkes für den Preis der Leipziger Buchmesse 2011 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik ist erfreulich in Hinblick auf die hochnotwendige und wünschenswerte Veränderung unserer Essgewohnheiten. Denn allein diese bestimmen die Art und Weise, wie die Industrie unser „Essen“ herstellt. Mit der Absicht sofortiger Veränderung des persönlichen Konsumverhaltens musste man in den Räumlichkeiten der Messe leider gnadenlos scheitern, denn das gastronomische Angebot enthielt keine entsprechenden Optionen. Ebenso vergeblich suchte man fair gehandelten Kaffee, Tee und Kakao. Gerade in Hinblick auf die Nominierung des Buchs von Karen Duve erscheint das sehr skurril und sind folgende Fragen zu stellen: Warum gab es im Angebot der Gastronomie weder Produkte aus biologischer Landwirtschaft noch fair gehandelte Produkte? Zumindest fair gehandelten Kaffee, der ja mittlerweile sogar von Ketten wie „Starbucks“ und „Subway“ angeboten wird? Und: Warum konnte ich diese Fragen nicht öffentlich hören? Auch von Karen Duve nicht?
Rekord, Rekord, dank sei Ford dem Herrn!
Wieder die Glashalle, wieder am vergleichweise sehr "schlecht" besuchten Freitag. ©Anders Balari.
Ein neuer Besucherrekord wurde verlautbart. Mit Stolz, so schien es. Klingt nach einer guten Sache. War es aber nicht, zumindest nach Angaben von Besuchern und vor allem auch Mitarbeitern sowie in meiner Wahrnehmung. Das Areal war am Samstag eindeutig überfüllt, was insbesondere an den baulichen Engpässen zu potenziell sehr gefährlichen Situationen führte – mal ganz abgesehen davon, dass es unmöglich war, sich wohl zu fühlen und sich in angemessen entspannter Atmosphäre mit dem Hauptgegenstand dieser Veranstaltung zu beschäftigen, nämlich dem Buch. Es liegt auf der Hand, was sich ereignet hätte, wenn es zur Notwendigkeit gekommen wäre, die Fluchtwege zur Räumung des Areals zu nutzen: Massenpanik, viele Verletzte, eventuell sogar Tote. Aber egal, Wachstum muss sein, oder? Und in den Geschäftsbüchern schlägt sich dies vermutlich nicht negativ nieder, also weiter mit Vollgas, hossa! Oder zumindest noch nicht – denn einige Buchliebhaber werden sich ernsthaft überlegen, ob sie das in dieser Form noch mal möchten.
Wer hat Angst vorm Bündnisfall?
Peer Steinbrück. Besser oder was? Wie es um seine Expertise bestellt ist, darüber bilde sich jeder selbst eine qualifizierte Meinung. Sein Aufruf nach mehr Bildung ist grundsätzlich auf jeden Fall sehr lobenswert. Trotz positiver Tendenzen bleibt für mich zu sagen, dass er es insgesamt in Hinblick auf das heutige wirtschaftliche Paradigma jedoch entweder wirklich nicht besser weiß oder sich in die Reihe jener großen Helden des Wirtschaftsliberalismus einfügt, die gar nicht möchten, dass die Menschen es besser wissen. ©Anders Balari.
Kritische, differenzierte Betrachtung der gegenwärtigen globalen wie regionalen Verhältnisse in Wirtschaft, Politik und der Gesellschaft ganz allgemein ist wichtig und notwendig. Diesbezüglich gab es auf der Buchmesse auch Einiges zu erleben. Erfreulicherweise. Andererseits und unerfreulicherweise stößt man dabei oft auch auf Halbwahrheiten und/oder halbherzige Auseinandersetzung mit Themen – was umso schwerer wiegt, wenn ausgewiesene Experten dies fabrizieren. Für mich der Gipfel war eine Diskussion im Rahmen der Sondersendung auf 3sat zur Buchmesse am Samstagabend. Über Deutschlands Kriegsbeteiligung in Afghanistan und Aussagen dazu von jenem Fachjournalisten und Romanautor, dessen Name mir wohl angesichts seiner dämlichen Beiträge gleich wieder zum Selbstschutz entfiel. Ich selbst bin nun kein Experte für die NATO und der ihr zugrundeliegenden rechtlichen Bestimmungen. Der Historiker Dr. Daniele Ganser von der Universität Basel ist es dafür umso mehr. Wer mit dem Begriff „Bündnisfall“ nichts anfangen kann oder nicht weiß, dass eben dieser „Bündnisfall“ laut den USA mit den Anschlägen am 9. September 2001 eintrat und mit ihm der automatische Kriegszustand aller NATO-Mitglieder, der solle sich den kurzweiligen und ganz grundsätzlich in Bezug auf die NATO interessanten Vortrag von Daniele Ganser hier ansehen. Um nur zu einem Thema eine frei zugängliche seriöse Informationsquelle anzuführen, die zwangsläufig wundern macht: Was kann man von einem Experten halten, dem diese Umstände nicht bekannt sind?
Scheren sind auch nur Klammern
Der überaus sympathische Kinder- und Jugendbuchautor Jürgen Banscherus wurde für sein Lebenswerk geehrt. ©Anders Balari.
Die Messe hielt insgesamt einige positive wie negative Überraschungen für Laila Mahfouz und mich bereit, zum Beispiel:
- Die zeitlich stark versetzte Veröffentlichung der deutschen Übersetzung eines wohl sehr guten Buchs von Ex-Präsident Jimmy Carter über den Nahost-Konflikt durch den idealistischen Kleinverleger Abraham Melzer – entgegen der Erwartung, dass dies in Anbetracht der Qualität des Inhalts und der Bekanntheit des Autors schnell und entsprechend aufmerksamkeitswirksam durch einen Großverlag geschehen würde.
- Abbas Khider, ein charismatischen jungen Mann, der im Liebeskampf mit der deutschen Sprache eben dieser sehr intensive Prosa abringt, während er Lyrik noch in seiner Muttersprache arabisch schreibt.
- Oder mit Jürgen Banscherus einen sympathischen Kinder- und Jugendbuchautor, der für sein Lebenswerk geehrt wurde.
Mehr dazu und zu anderen Themen wird in den kommenden Tagen folgen.
Anders Balari, 21. März 2011