Am 3. Dezember 2010 fand im so gut wie ausverkauften Hamburger Kellertheater die Dernière der von Monika Dose inszenierten Tragikomödie „Indien“ statt. Am Ende blieben stürmische Ovationen, emotional sichtlich aufgewühlte Darsteller und ein sehr positiv überraschter Österreicher.
„Indien“. Von Josef Hader und Alfred Dorfer.
Als Theaterstück uraufgeführt im Jahr 1991. In Wien und mit eben diesen beiden Herren als Darsteller.
Als Film im Jahre 1993 erschienen. In Wien und mit eben diesen beiden Herren als Darsteller. Kein déjà vu, sondern eine Tatsache.
Schon bald darauf hatte der Film Preise eingeheimst. Und in Österreich „Kultstatus“ erreicht. Auch für mich, der ich dort geboren bin und den Großteil meines bisherigen Lebens auf dieser „Insel der Seligen“ verbracht habe.
Ungefähr einmal im Jahr wandert der mit „Indien“ bestückte Bildtonträger so auch konsequenterweise vom Regal in meinen DVD Player, um mir eine erneute Begegnung mit Bösel und Fellner zu ermöglichen.
Und um meiner fest wie (na)tiv [sic!] verwurzelten Bindung zum österreichischen Dialekt zu huldigen. Hinter dieser Huldigung verbirgt sich allerdings mehr schlichter Brückenschlag denn abstruser religiöser Ritus: Die Sprache dieser beiden Helden war und ist für mich ein entscheidender Aspekt für den Erfolg von Stück und Film. Spätestens ab dem ersten Satz, den Josef Hader als Bösel spricht, wohlgemerkt nach erst knapp sieben langen Minuten voller Fellnereien: „De Wirt san olle Trott’ln.“
(Dieser Prolog ist sowohl notwendig als auch bald zu Ende. Indianerehrenwort!)
Bösel (links, Michael Eble), Schnaps (davor, Prozentsatz unbekannt) und Schnösel (rechts, Peter Zschorsch). Foto: Anders Balari.
Da ich vor nicht allzu langer Zeit Georg Schramms „Thomas Bernhard hätte geschossen“ (großartig und empfehlenswert, das ist aber eine andere Geschichte) gesehen hatte und mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie „Indien“ in Hamburg allein schon sprachlich funktionieren sollte, stellte sich ganz automatisch bei mir im Vorfeld zur Aufführung der plakative Satz „Josef Hader hätte geschossen“ ein.
Freilich in Unkenntnis der Tatsache, dass das Stück wiederholt und teilweise – wie in Stuttgart – sehr lange auch in Deutschland überaus erfolgreich aufgeführt wurde und wird. Und freilich in noch größerer Unkenntnis der Tatsache, wie überzeugend und lebendig es Michael Eble und Peter Zschorsch an diesem Abend präsentieren würden.
„Und? Hätte er nun geschossen, der Josef Hader?“, frage ich stellvertretend für den Leser.
Ich kann zwar letztlich nicht stellvertretend für Josef Hader antworten, aber da ich diese unsägliche Aussage nun mal in die Welt gesetzt habe, mache ich es trotzdem, für genau jenen fiktiven Josef Hader, dem auch das Schießen unterstellt worden wäre, wäre es ihm unterstellt worden.
Die erste Gegenfrage müsste sofort lauten, ob Josef Hader überhaupt jemand ist, der – aus welchen Gründen auch immer – zu einem schießenden Menschen werden könnte. Dieses philosophische Problem überspringen wir mal locker.
Somit zur Frage, ob er im Hamburger Kellertheater am 3. Dezember 2010 einen Grund vorgefunden hätte, um zu schießen. Darauf muss die Antwort zu meiner österreichischen Überraschung lauten: „Nein. Keinen einzigen.“ Dann schon eher mehrere Gründe, um sich am Ende des unterhaltsamen und gelungenen Theaterabends begeistert den Ovationen anzuschließen.
(Für etwaige Korinthenkacker: Hier ist der Prolog nun zu Ende.)
Im Hamburger Kellertheater wurde „Indien“ unter der Regie von Monika Dose inszeniert. In den beiden Hauptrollen waren eben Peter Zschorsch als „Fellner“ und Michael Eble als „Bösel“ zu sehen. Während die Sprache des Schnösels „Fellner“ faktisch unverändert übernommen werden konnte, wurde aus dem derben Wienerisch von „Bösel“ ein überraschend gut passendes Schwäbisch – konsequenterweise spielt die Handlung dann auch in eben dieser Region.
Schon vor dem Beginn begann die Aufführung, nämlich damit, dass Bösel eines von mehreren Schnitzel dieses Abends verzehrte, dabei eines von mehreren Bieren dieses Abends trank und die einzige Zeitung dieses Abends las. Dies tat er zunächst auch nach Beginn der Aufführung, während sein Kollege Fellner schon innerhalb weniger Minuten zweierlei klarstellte: Für das Publikum im Allgemeinen, dass man hier einen hervorragend gespielten unsympathischen Schnösel – vielleicht sogar den Erfinder des Korinthenkackertums selbsthöchstpersönlich – vor sich hat. Für mich im Speziellen, dass Peter Zschorsch sich das Spiel von Alfred Dorfer sehr genau angesehen haben muss, denn Mimik, Gestik und Körpersprache ließen mich sofort jenen Fellner wiedererkennen, den ich aus dem Film bestens kenne.
Als dann Bösel nach einigen Minuten mit einer schwäbischen und sehr gut bei mir landenden Version des Haderschen „De Wirt san olle Trott’ln“ loslegte, wurde mir allmählich endgültig klar, dass es wohl ein sehr guter Theaterabend werden würde. Und so kam es dann auch.
Bösel (li) und Fellner in gedämpfter Stimmung auf Fellners Kranken- und schließlich auch Totenbett. Foto: Anders Balari.
Die beiden Darsteller überzeugten und, ja, begeisterten mit ihrem Spiel ohne Einschränkungen in beiden Teilen der Inszenierung. Sowohl im komödiantischen ersten als auch im tragischen und lediglich schwarzhumorig erträglich gemachten zweiten Teil.
Das in einem Maße, das mich – während ich selbst es noch gar nicht realisiere – sogar schreiben lässt: Ihr Spiel gefiel mir besser als jenes von Dorfer und Hader im Film „Indien“ und das bei aller oben offen bekundeten Liebe zu diesem Film.
[Einschub: Diese „Blasphemie“ bedarf einer Erklärung, nicht? Hader war lange Zeit in erster Linie Kabarettist und damals auch noch sehr jung – seit einigen Jahren ist er aber ein ganz großartiger und zunehmend besserer Schauspieler, dem ich fast alles zutraue. Eindrucksvoll auch in seinem aktuellen Programm „Hader muss weg“ zu sehen. Oder in Filmen wie „Silentium“, „Blue Moon“ oder „Der Knochenmann“. Für Dorfer gilt Ähnliches, doch ihn habe ich persönlich seit den 90ern gleichsam „aus den Augen verloren“, zumindest als Schauspieler – und somit gibt es bei mir auch keinen aktuellen persönlichen Eindruck. Ohne die Leistung von Peter Zschorsch und Michael Eble gleich wieder einschränken zu wollen, ist es wohl auch so, dass Dorfer und vor allem Hader einfach auch zu jung waren, um Fellner und Bösel wirklich restlos überzeugend verkörpern zu können.]
Fellner (re) ist tot. Und Bösel vielleicht lebendiger, als er jemals zuvor war. Foto: Anders Balari.
Schließlich starb Fellner, wie er es jedes Mal tut. Und ließ einen Bösel zurück, der nicht nur seinen vielleicht ungewöhnlichsten oder gar einzigen Freund verlor, sondern wohl und vielleicht gerade deswegen lebendiger ist als jemals zuvor.
Es ist alles andere als übertrieben, wenn ich von tosendem Applaus berichte – insoweit die im kleinen Kellertheater auch bei restloser Füllung überschaubar große Zuschauermenge eben „tosen“ kann. Peter Zschorsch und Michael Eble waren sichtlich gerührt, genossen die verdienten Ovationen und vermutlich empfanden sie auch ein wenig Wehmut. Ähnlich wie wohl auch die Regisseurin Monika Dose. Wie eingangs erwähnt, handelte es sich schließlich um die Dernière. Warum dann dieser Beitrag? Wenn man das Stück im Kellertheater sowieso nicht mehr sehen kann?
Erstens einfach so, weil ich begeistert und sehr positiv überrascht bin und mir beide Darsteller Lust auf mehr von ihnen machten.
Zweitens, weil dies nach „Einesteils und andererseits und außerdem“ der zweite sehr gute Theaterabend beim zweiten Besuch des etwas versteckten und unscheinbaren Kellertheaters war und ich daher wohl schon bald prüfen werde, ob die Überzeugungsquote bei 100% bleibt.
Und drittens, weil ich „Indien“ sehr schätze und die entsprechende DVD in keiner Filmsammlung fehlen sollte.
Und viertens, weil daraus die Empfehlung resultiert, sich gegebenenfalls diesen Film zu kaufen sowie bald mal das Kellertheater zu besuchen.
Anders Balari, 6. Dezember 2010
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