Premiere am 18. August 2018 im Theater Das Zimmer: Jan Holtappels, der im Theater Das Zimmer schon oft für unvergessliche Theatererlebnisse sorgte, inszeniert Fridtjof Bundel in einem Soloschauspiel nach der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka auf Hamburgs kleinster Bühne. Diese Darbietung, die sich niemand entgehen lassen sollte, rüttelt auf und geht unter die Haut.
Text des Theaters: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.«
Mit diesem mysteriösen Vorfall beginnt Kafkas weltberühmte Erzählung über den Handelsreisenden Gregor Samsa.
Doch als ekelerregendes Ungeziefer ist der bisherige Ernährer der Familie allen bald nur noch eine Last. Je mehr er körperlich und seelisch verkümmert, desto stärker werden Vater, Mutter und Schwester. Am Ende steht für die Familie fest: Gregor muss weg, denn:
Wer nicht funktioniert, wer sich verweigert, der stört und wer anders ist, gewollt oder ungewollt, der ist untragbar.
Gut möglich, dass es sich bei Gregor Samsas Verwandlung um einen Burn-out handelt, der durch seine Rolle als Alleinernährer seiner elterlichen Familie und durch seine unzähligen Pflichten ausgelöst wird und sich zu einer gewaltigen Depression auswächst, als er keinerlei Verständnis für seinen Zustand seitens seiner Familie erfährt, für die er bisher immer pflichtbewusst gesorgt hat. Was letztlich zu seinem Zustand führt und wie sich dieser konkret beschreiben lässt, ist im Grunde irrelevant. Fest steht, dass Gregor nicht mehr der ist, der er einmal war und dass er sich nicht mehr in der Lage sieht zu leisten, was von ihm erwartet wird. Wie rasch, wie sehr und wie vehement das Andersartige abgelehnt wird, zeigt Franz Kafkas 1915 erschienene Erzählung auf unnachahmliche Weise. Eindringlich vermittelt Kafka eine solche Unmenschlichkeit, insbesondere gegenüber denen, die sich nicht wehren können.
Gregor Samsa wird fast augenblicklich aussortiert; er fällt durch das Raster der Gesellschaft, sobald er vom Üblichen abweicht und seinen gesellschaftlichen Pflichten nicht mehr nachkommen kann. Auch seine eigene Familie duldet ihn nur noch, ist aber froh, wenn sie möglichst wenig an ihn denken muss und er ihnen keinerlei schlechtes Gewissen macht.
Psychologisch spannend birgt Kafkas bekannteste Erzählung allerdings einen Wandel jeder seiner Figuren, denn erst Gregors Verwandlung führt dazu, dass die übrigen Familienmitglieder aus einer Art selbst auferlegter Lethargie erwachen. Obwohl sie in der Lage gewesen wären, auch schon vorher ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, war es für sie bisher bequemer, diese Last allein Gregor aufzubürden, der nun – in seinem Leid wiederum alleingelassen – versucht, irgendwie mit der neuen Situation zu leben.
»[Gregor erkannte], daß der Mangel jeder unmittelbaren menschlichen Ansprache, verbunden mit dem einförmigen Leben inmitten der Familie, im Laufe dieser zwei Monate seinen Verstand hatte verwirren müssen, denn anders konnte er es sich nicht erklären, daß er ernsthaft danach hatte verlangen könne, daß sein Zimmer ausgeleert würde. Hatte er wirklich Lust, das warme, mit ererbten Möbeln gemütlich ausgestattete Zimmer in eine Höhle verwandeln zu lassen, in der er dann freilich nach allen Richtungen ungestört würde kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem schnellen, gänzlichen Vergessen seiner menschlichen Vergangenheit? War er doch jetzt schon nahe daran, zu vergessen, und nur die seit langem nicht gehörte Stimme der Mutter hatte ihn aufgerüttelt. Nichts sollte entfernt werden; alles mußte bleiben; die guten Einwirkungen der Möbel auf seinen Zustand konnte er nicht entbehren; und wenn die Möbel ihn hinderten, das sinnlose Herumkriechen zu betreiben, so war es kein Schaden, sondern ein großer Vorteil.«
In der Inszenierung von Jan Holtappels spielt Fridtjof Bundel alle Rollen selbst. Dazu benötigt er allerdings keinerlei Kostümierung – allein seine Stimme und seine Haltung machen den Unterschied aus. Insgesamt ist er über hundert Minuten lang in Bewegung. Diese psychisch und physisch besonders anstrengende Rolle meistert der junge Schauspieler mit Bravour.
Schon mehrfach, insbesondere als Werther in der Bühnenfassung von Johann Wolfgang von Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werther« am Landestheater Eisenach, begeisterte mich Fridtjof Bundels intensives Spiel. In »Die Verwandlung« allerdings hat Bundel, der seit der Spielzeit 2017/18 festes Ensemblemitglied am Theater Eisenach ist, alle Erwartungen übertroffen. Seine Vielseitigkeit und sein kompromissloses Aufgehen in seiner Rolle wird auch gut anhand unserer Fotostrecke sichtbar.
Wieder hat mir das Theater Das Zimmer einen unvergesslichen Theaterabend geschenkt. Unterstützt wurde der Regisseur in dieser Produktion von der umsichtigen dramaturgischen Arbeit von Dr. Jan Horstmann. Welch ein Glück, dass Fridtjof Bundel und Jan Holtappels neben ihren festen Engagements Zeit für diese Aufführung finden konnten.
Ab 19. Februar 2019 inszeniert Jan Holtappels am Theater Münster dann die zweiteilige Mono-Oper »Das Tagebuch der Anne Frank« von Grigori Samuilowitsch Frid, der mit einem fast wortgetreuen Libretto aus den Originaltexten Anne Franks eine musikalisch-lyrische Erzählung geschaffen hat. Auch diese spannende Darbietung will ich mir nicht entgehen lassen.
Fazit: Franz Kafka erzählt in »Die Verwandlung« eindringlich von einem unfreiwilligen Ausstieg aus der Gesellschaft, von der Ignoranz der Menschen gegenüber dem Leid anderer und von der Ablehnung Andersartiger. In gekonnt ausdrucksstarken Bildern setzt Jan Holtappels Fridtjof Bundel in Szene. Mit viel Einfühlungsvermögen in die skurrile Geschichte und das teilweise grotesk wirkende Verhalten seiner Figuren erwecken sie Kafkas Erzählung auf der kleinsten Bühne Hamburgs zum Leben und lassen ab und an sogar verwirrend komische Momente zu. Diese Vorstellung ist ein Soloprogamm erster Güte und damit unbedingt empfehlenswert!
Allerdings können Sie »Die Verwandlung« im Theater Das Zimmer nur noch zweimal erleben – am 20. und 21. Oktober 2018. Informationen zum Stück selbst sowie die Möglichkeit zur Buchung der Tickets finden Sie hier.
Über den Autor: Franz Kafka wurde 1883 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Prag geboren. Nach seiner Promotion als Jurist wurde er Angestellter einer Versicherungsgesellschaft. 1917 erkrankte er an Tuberkulose, der er 1924 erlag. Seine heute weltberühmten Erzählungen und Romane (»Amerika«, »Der Prozeß« und »Das Schloß«) wurden erst nach seinem Tod bekannt.
Laila Mahfouz, 7. Oktober 2018
Links:
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Informationen zu Fridtjof Bundel finden Sie hier auf der Seite des Theaters Eisenach.
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