Bevor es losgeht
Diese Woche war es andersrum: Zunächst entstand das Video, erst danach der geschriebene Text. Erneut werden die selben Inhalte behandelt, doch erneut gibt es Abweichungen im Detail.
Ein Hinweis: Die Videos der Reihe “UNGESCHNITTEN” sind wie Live-Sendungen ohne Probe, in einem Take aufgenommen und nicht geschnitten. Das ist Absicht, denn ich habe keine Zeit dafür, es anders zu machen und damit nur zwei Alternativen: Mach es so oder mach es gar nicht.
Noch ein Hinweis: Für den folgenden Text gilt das auch. Auch er ist gleichsam ein “Live-Mitschnitt”, aus zeitlichen Gründen und auch im Sinne der Aussage Goethes, einen langen Brief schreiben zu müssen, weil man für einen kurzen Brief keine Zeit habe.
In Summe sehe ich die Lektüre und das Anschauen des Videos aber auch unter diesen Umständen als lohnend an, sonst würde ich es auch nicht machen – sobald man mich gut genug kennt, weiß man, dass ich mit dieser Einschätzung (also lohnend oder nicht lohnend) sehr oft Recht habe.
Es geht los
Spitzenpolitiker haben eine enorme Hebelwirkung: Von ihren Entscheidungen sind sehr viele Menschen betroffen, oft viele Millionen, mitunter sogar Milliarden.
Zugleich ist unsere Welt wesentlich komplexer geworden als sie es etwa beim Fall des eisernen Vorhangs wahr, wesentlich interdependenter, wesentlich dynamischer und heute gibt es viele Konzerne, deren Wertschöpfung größer ist als die Wirtschaftsleistung der meisten Länder.
Das führt zu einem anderen Anforderungsprofil für Spitzenpolitiker, um in Demokratien wirklich den Souverän, also das Volk, angemessen zu vertreten.
Und es führt zur Notwendigkeit struktureller Änderungen, die dazu führen, wesentlich besser mit Komplexität umgehen zu können als dies heute der Fall ist.
Für ganz viele Berufe braucht man einen offiziellen Befähigungsnachweis, beispielsweise als Ärzt*in, als Gastronom oder für Gefahrenguttransporte. Warum ist das in der Spitzenpolitik nicht so?
Warum nicht unter Berücksichtigung des aktuellen diesbezüglichen Erkenntnisstandes ein Set aus Tests erstellen, die zu bestehen sind, bevor man Spitzenpositionen übernehmen darf?
Bei diesen Tests sollte Wissen eine untergeordnete Rolle spielen. Faktenwissen kann man heutzutage sehr schnell recherchieren, Methodenwissen kann man sich nach Bedarf aneignen und in solchen Positionen sollte man ohnehin in der Lage sein, das kollektive Wissen der jeweiligen Organisation zu kultivieren und zu nutzen.
Von entscheidender Bedeutung sind eine hinreichend hohe “ganzheitliche Intelligenz” sowie eine Persönlichkeit, die sich aus jenen ewigen Prinzipien speist, die beispielsweise Stephen R. Covey mit seinen “7 Habits” gut vermitteln kann (siehe bei den Literaturtipps unten).
Zu “ganzheitlicher Intelligenz” gehören Mitgefühl, Vertrauen, Empathie, ein hohes kognitives Niveau (siehe unten bei den Literaturtipps unter dem Punkt “Komplexität”), Weisheit etc. – all das lässt sich heutzutage gut messen und einschätzen, viel besser, als es noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war.
Mit solchen Tests könnte man deutlich besser als heute gewährleisten, dass lediglich dazu befähigte Menschen Positionen in der Spitzenpolitik einnehmen können.
Der Wandel dorthin sollte sanft sein: Jeder derzeit als Spitzenpolitiker tätige Mensch könnte die Möglichkeit bekommen, sich die benötigten Fähigkeiten in einem angemessenen Zeitraum zu erwerben.
Dabei könnte ein Pfad skizziert werden mit regelmäßigen Überprüfungen. Das sollte für alle derzeitigen Spitzenpolitiker gleich gestaltet sein, unabhängig von ihren derzeitigen Fähigkeiten.
Niemand sollte dabei an den Pranger gestellt werden, alles hat mit höchstmöglichem Respekt und höchstmöglicher Wertschätzung zu erfolgen.
Parallel dazu könnte einschleifend ein Befähigungsweg etabliert werden, den jeder Mensch einzuschlagen hat, der künftig in der Spitzenpolitik tätig sein möchte.
Die Ressourcen für diesen Weg sollten vom Staat bereitgestellt werden, niemand sollte aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage sein, diesen Weg nicht einschlagen, sich nicht entsprechend qualifizieren zu können – denn diese Fähigkeiten hätten selbstverständlich auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen stark positive Auswirkungen.
Die Summe all dessen, womit ich mich in mehr als zwei Jahrzehnten beschäftigt habe, was ich erlebt, an Wissen und Erfahrungen erworben habe, zeigt mir dieses Bild: Die meisten Menschen handeln in ihrem Berufsleben mit starker Tendenz in der Überzeugung, das Richtige zu tun.
Hier bitte innehalten und diese Aussage sacken lassen, selbst darüber reflektieren, am Besten am Beispiel von sich selbst.
Diese Aussage impliziert, dass die großen Probleme unserer Zeit strukturell bedingt und systemisch entstanden sind. Und nur auf diese Weise lassen sie sich wirklich lösen.
Das ist ein guter Moment, um zum zweiten Thema zu gehen: Hierarchische Strukturen mit traditionellen Führungs- und Entscheidungsmustern eignen sich zunehmend schlecht dazu, in unserer modernen Welt zu guten Ergebnissen zu führen.
In der Wirtschaft haben einige Unternehmen als Vorreiter dies bereits vor längerer Zeit erkannt und haben Möglichkeiten erforscht und erprobt, wie man mit anderen Organisationsstrukturen deutlich erfolgreicher und besser mit den hoch komplexen und dynamischen Gegebenheiten der modernen Welt umgehen kann.
Immer mehr Unternehmen schließen sich dieser Bewegung an. Zusammenfassend nennt man sie “Teal Organisations”. Ein sehr guter Einstieg dazu sind das Buch “Reinventing Organisations” von Frederic Laloux sowie die beiden Bücher von Bernd Oesterreich und Claudia Schröder zur kollegialen Führung (alle drei Bücher finden sich unten bei den Literaturhinweisen).
Jeder Mensch, der selbst die Möglichkeit hatte, die Ergebnisse allein getroffener Führungsentscheidungen mit den Ergebnissen der kollektiven Entscheidungen eines reifen Kollektivs zu vergleichen, hat beobachtet, dass die kollektiven Entscheidungen mit starker Tendenz zu besseren Ergebnissen führen.
Entscheidend ist dabei das Eigenschaftswort “reif”: Man kann den Schalter nicht umstellen, nicht heute eine Alleinentscheider*in haben und morgen eine funktionierende kollegiale Führung. Es ist ein behutsamer Wandel erforderlich, Schritt für Schritt – ein sehr lohnender Wandel, weil er tendenziell zu besseren Führungsentscheidungen und zu Resultaten führt.
Was hat das mit Politik zu tun?
Sehen wir uns beispielhaft die Regierung an, so sehen wir, dass dort noch die traditionelle Organisationsform vorherrschend ist: Eine Person führt ein Ressort und darin weitreichende Entscheidungsmacht. Wir erleben regelmäßig, dass dies zu nicht optimalen Entscheidungen führt oder gar zu Machtmissbrauch.
Ich bin davon überzeugt, dass auch in der Politik, hier am Beispiel der Regierung, eine Transformation hin zu kollegial geführten und verantworteten Ressorts zu wesentlich besseren Resultaten führen würde.
Organisiert man das “gemeinsam” gut, dann ist man gemeinsam halt bei Entscheidungen in Unsicherheit oder gar Ungewissheit wesentlich schlauer als man es alleine jemals sein könnte. Und das sind auf dieser Ebene praktisch fast alle Entscheidungen: sie müssen getroffen werden in Unsicherheit oder Ungewissheit, Beides im Sinne der Entscheidungslehre zu verstehen.
Durch die Kombination von Befähigungsnachweisen und kollegialer Führung in der Spitzenpolitik könnte man meiner Ansicht nach also zu einer signifikant besser funktionierenden Demokratie gelangen.
Literaturhinweise
“Die 7 Wege zur Effektivität” von Stephen R. Covey: https://buchwilke.buchhandlung.de/shop/article/36878698/stephen_r_covey_die_7_wege_zur_effektivitaet.html
“Komplexität”: Die meisten Menschen verwechseln Komplexität mit Kompliziertheit, ein Missverständnis mit immens hohem Potenzial dafür, Schäden anzurichten. Es ist somit sehr wichtig, den Unterschied zu kennen, zu begreifen, was Komplexität bedeutet und wie man sie handhaben kann. Sehr gut dazu: https://www.philognosie.net/denken-lernen/komplexitaetstraining-die-kunst-der-komplexitaetsverarbeitung
“Das kollegial geführte Unternehmen – Ideen und Praktiken
für die agile Organisation von morgen” von Bernd Oestereich und Claudia Schröder: https://kollegiale-fuehrung.de/buch/
“Agile Organisationsentwicklung – Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen” von Bernd Oestereich und Claudia Schröder: https://kollegiale-fuehrung.de/buch-agile-oe/
Und Frederic Laloux:
Für den Einstieg “Reinventing Organizations visuell -Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit.”: https://buchwilke.buchhandlung.de/shop/article/29422966/frederic_laloux_reinventing_organizations_visuell.html
Detaillierter “Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit.”: https://buchwilke.buchhandlung.de/shop/article/25663763/frederic_laloux_reinventing_organizations.html
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