Lesung am 2. Juni 2016 im Literaturhaus Hamburg: Boualem Sansal zeigt in seinem Roman »2084« eine Welt, in der die Anatomie einer hoch wirksamen systematischen Unterdrückung, wie sie von George Orwell in seinem Hauptwerk »1984« meisterhaft veranschaulicht wurde, ein noch umfassenderes Ausmaß erreicht. Sansal verwebt Elemente historischer Begebenheiten wie bespielsweise der Kulturrevolution in China mit Aspekten aus »1984« und mit Vorgängen, die wir gegenwärtig in unserer Welt beobachten können. Aus diesem Gewebe formt er in großer Klarheit, Ruhe und mit einer Poesie, die in diesem Zusammenhang auf einen Mitteleuropäer wie ein Fremdkörper wirken mag, eine im Lichte der Aufklärung absurd wirkende Monstrosität, welche aber schon ab dem zweiten Blick mindestens für einige Regionen der Welt zu einer erschreckend möglichen Zukunft wird.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Einvernehmlich und im guten Glauben …
In Abistan, Reich der fernen Zukunft, bestimmen die Verehrung eines einzigen Gottes und das Leugnen der Vergangenheit das Herrschaftssystem. Individuelles Denken ist abgeschafft: eine allgegenwärtige Elite unter Führung von Abi dem Entsandten steuert die Ideen und verhindert abweichendes Handeln.
Offiziell heißt es, die Bevölkerung lebt einvernehmlich und im guten Glauben.
Doch Ati, der Protagonist dieses Romans, der ausdrücklich anknüpft an Orwells Klassiker »1984«, hinterfragt die vorgegebenen Direktiven: Er macht sich auf die Suche nach einem Volk von Abtrünnigen, das in einem Ghetto lebt, ohne in der Religion Halt zu suchen …
Das fiktive Land Abistan ist im Roman »2084 – Das Ende der Welt« angeblich das einzige noch existierende Land. Es erstreckt sich also in der Wahrnehmung seiner Bewohner über die gesamte Welt. Dies sei das Resultat eines Atomkrieges, heißt es. Eine Zeitrechnung gibt es ebenso wenig wie eine Geschichtsschreibung, die in die Zeit vor dem Endsieg durch Abistan im Namen Yölahs fallen würde.
Alles war mehr als voraussehbar, doch jene, die »Niemals so etwas« sagten, und jene, die wiederholten »Nie wieder so etwas«, wurden nicht gehört. […] Diesmal, 2084, war es endgültig. Die alte Welt hatte aufgehört zu existieren und die neue, Abistan, öffnete ihre ewige Herrschaft über den Planeten.
Buch 4 / Seite 258
Auf dem Weg zu diesem Endsieg sei unter anderem auch jenes Land niedergerungen worden, in dem der IngSoc vorherrschte. Damit verortet Sansal seine Handlung direkt in die Welt von George Orwells »1984«, jedoch später, ohne dass bekannt ist, wieviel Zeit seit dem Jahr 1984 vergangen ist.
IngSoc war teilweise auch eine Blaupause für die Art und Weise, mit der Abistan regiert wird: Vereinfachung der Sprache (Abilang), ein unsterblicher, gottgleicher und nicht greifbarer Führer Abi, extreme Armut, extrem einfache Lebensverhältnisse, kaum Farben, kaum Natur, nichts, was in irgendeiner Weise erbaulich wäre oder die Kreativität anregen könnte, keine Wissenschaft.
Hatten manche gedacht, mit der Zeit und dem Reifen der Zivilisationen würden die Sprachen länger werden, an Bedeutung und Silben gewinnen, so trat genau das Gegenteil ein: Sie waren kürzer geworden, waren eingeschrumpft, hatten sich auf Onomatopöien und Ausrufe reduziert, wenig dichte zudem, die wie primitive Schreie und Geröchel klangen, was in keiner Weise erlaubte, komplexe Gedanken zu entwickeln und auf diesem Weg zu höheren Universen zu gelangen.
Buch 2 / Seite 104
Bei so vielen Parallelen und sogar direkten Bezügen drängt sich die Frage auf, was Boualem Sansal mit »2084« vermitteln möchte. Eine der Antworten findet sich in den Unterschieden zwischen diesen beiden Büchern.
George Orwell erzählt in »1984« aus der Perspektive von Winston Smith, eines Mitgliedes der äußeren Partei, was der mittleren von drei gesellschaftlichen Schichten entspricht. Die untere Schicht, die Proles wird dabei nur spärlich beleuchtet, während die obere Schicht, die innere Partei, fast gänzlich im Dunkel bleibt. Boualem Sansal wählte einen anderen Weg. Sein Protagonist Ati gehört der unteren Schicht an und aus dieser Perspektive wird die Handlung von »2084« entwickelt.
Die Unterdrückung betrifft in Orwells Welt im Wesentlichen nur die mittlere Schicht und mit Einschränkungen vermutlich auch die obere Schicht. Die untere Schicht wird mittels Ablenkungen unter Kontrolle gehalten. In Sansals Welt erstreckt sich die autoritäre Unterdrückung besonders auch auf die Unterschicht und ist in Summe noch massiver, weil sie in noch stärkerem Maße die Menschen dazu verleitet, Ihresgleichen engmaschig zu überwachen und bei Bedarf zu denunzieren.
Zum Verhängnis in diesem engmaschigen Überwachungsnetz können dabei werden (Zitat): Die Verwaltung, Zivile, Vs, Spione des Apparats, AntiRegs, Armeepatrouillen, Freiwillige Rächende Gläubige, Freiwillige Milizen, Richter der Moralischen Inspektion, Mockbis und Repetitoren der Denunzianten. Ohne zu wissen, worum es sich bei all dem genau handelt, wirkt schon die schiere Anzahl erschlagend.
Die Basis der Unterdrückung bildet die Religion, was eindringlicher und stärker wirkt als der säkulare, wenn auch teilweise ebenfalls mittelbar religiös orientierte manipulative Ansatz in »1984«. Es wird deutlich, dass es sich um eine Weiterentwicklung des radikalen Islamismus handelt. Der Islam wird dabei von sämtlichen positiven Aspekten befreit, übrig bleiben nur die auch in unserer Gegenwart beobachtbaren und dem wahren Wesen dieser Religion widersprechenden Aspekte des fundamentalistischen Extremismus, die sogar noch gesteigert und mit Elementen des Orwellschen Unterdrückungssystems angereichert werden. Von großer Bedeutung ist dabei der Umstand, dass die Gläubigen gar nicht wirklich glauben sollen.
Das System will nicht, dass die Leute glauben! Das ist das allerinnigste Ziel, denn wenn man an eine Idee glaubt, kann man auch an eine andere glauben, an ihr Gegenteil zum Beispiel, und aus ihr ein Schlachtross machen, um die erste Illusion zu bekämpfen.
Buch I / Seite 43
Das Unterdrückungssystem Abistans bedient sich massiver systematischer Indoktrination, die eine sehr weitreichende Auslöschung von Individualität und Persönlichkeit, aber auch von Bräuchen und alter Kultur bewirkt und diese Menschen wie hoffnungslos verlorene Untote wirken lässt. Diese Untoten sind sich ihres Zustandes aber nicht bewusst, sie fühlen sich nicht unterdrückt, die Gitterstäbe in ihren Köpfen sind für sie unsichtbar.
Da es in der Praxis auf das Detail ankommt, ist alles kodifiziert worden: von der Geburt bis zum Tod, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang ist das Leben des perfekten Gläubigen eine ununterbrochene Folge von zu wiederholenden Gesten und Worten, sie lässt ihm keinerlei Spielraum, um zu träumen, zu zögern, nachzudenken, eventuell abweichend zu glauben, zu glauben vielleicht.
Buch I / Seite 44
Die Handlung beginnt mit dem Aufenthalt des Protagonisten Ati in einer Klinik für Tuberkulosekranke. Der Zauberberg taucht dabei sofort im Bewusstsein auf und ja, es gibt auch Parellelen zu Thomas Manns Bildungsroman. George Orwell, dem Sansal mit seinem Roman ein neues Denkmal geschaffen hat, war lungenkrank wie Ati und auch den Namen seiner Hauptfigur wählte Sansal mit Bedacht: Orwell, der eigentlich Eric Arthur Blair hieß, war Atheist und daraus entstand Ati.
Er und auch das restliche Personal wirkt farb- und leblos, was die Lektüre anfangs erschwert, aber stimmig ist, denn auch er ist zu Beginn einer der oben erwähnten „Untoten“, in dem sich die Lebensgeister nur dann regen, wenn es um die Denunziation anderer Menschen geht. Vor seiner unfreiwilligen Reise zur Klink war er gar ein „Vorzeigeblockwart“. Die Krankheit, der Aufenthalt in der Klinik und vor allem die lange Reise zurück pflanzen in ihm jedoch einen Samen der Widerständigkeit und des Fragens, der im Laufe des Buches langsam zu keimen beginnt. Neben der Handlung vermittelt Sansal dies gekonnt auch durch sukzessiven Abbau der Farb- und Leblosigkeit Atis.
»Die Konfrontation mit der Vergangenheit kann der eine Stein sein, der das ganze System zusammenstürzen lässt.
»2084« ist daher auch ein Plädoyer für die Rettung des Alten ins Neue.«
So Boualem Sansal bei der Lesung.
Sprachlich ist »2084« von Anfang an ein Genuss, die dem Buch innewohnende Poesie verstört mitunter jedoch auch, denn sie will vermeintlich nicht zur düsteren Handlung passen. Und tut es doch. Dies soll nicht erklärt, es soll erfahren werden. Immer wieder erzeugt Sansal starke Bilder, um die wesentlichen Aussagen begreifbar zu machen. Im Literaturhaus las Michail Paweletz die deutschen Passagen des Romans auf ganz wunderbar spannende und mitreißende Weise.
Im Gebirge ist der Abstieg nicht leicht, er ist gefährlicher als der Aufstieg, man erliegt infolge der Schwerkraft allzu leicht der Versuchung der Hast. Die alten Routiniers sagen es immer wieder teuflisch geheimnisvoll den Neulingen, überstürzt in Richtung des Gefälles laufen, ist eine sehr menschliche Neigung.
Buch I / Seite 56
Fazit: Boualem Sansals Roman »2084« mag vielleicht – und vielleicht sogar wegen der bewussten Nähe – nicht so bahnbrechend wirken wie »1984« und es verlangt dem Leser zunächst mehr Durchhaltevermögen ab. Dieses Durchhaltevermögen wird aber reich belohnt, zumindest dann, wenn man dazu bereit ist, sich mit dieser Welt in den eigenen Gedanken intensiv auseinanderzusetzen und sie mit unserer Realität abzugleichen. Man sollte dabei aber nicht den Fehler machen, in der aus dem Islam abgeleiteten Religion mehr als ein Vehikel zu sehen. Zentrale Aspekte der Unterdrückungsmechanismen finden sich auch jenseits des Islam, etwa mitten in unserer angeblich vom Christentum durchwirkten westlichen Welt. Die Schlussworte seien Boualem Sansal selbst überlassen, mit dem Hinweis darauf, dass die Lektüre von »2084« in die erste Kategorie fällt: »Doch so ist es, es gibt Kultur und Kultur, jene, die Kenntnisse summiert, und eine andere, häufigere, die Unzulänglichkeiten summiert.« (Buch 3 / Seite 159)
Anders Balari, 17. Mai 2018
Boualem Sansals Roman »2084 – Das Ende der Welt« ist in der Übersetzung von Vincent von Wroblewsky im Mai 2016 für EUR 24,00 im Merlin Verlag erschienen – gebunden, 288 Seiten, ISBN 978-3875363210.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Boualem Sansal, geboren 1949 in Theniet El Had, Algerien, ist ein frankophoner algerischer Schriftsteller. 1999 erschien in Paris sein erster Roman »Le serment des barbares« (dt. »Der Schwur der Barbaren«), für den er zwei Auszeichnungen, den Prix Tropiques und den Prix du Premier Roman, erhielt. Es folgen Romane und Essays, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. Für seinen Roman »2084 – La fin du monde« erhielt er 2015 den Grand Prix du Roman. Boualem Sansal lebt in Boumerdès nahe Algier.
Links:
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
In diesem Video stellt Boualem Sansal seinen Roman »2084 – Das Ende der Welt« vor:
Informationen zu Boualem Sansal auf der Seite des Merlin Verlages.
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Informationen zu Anders Balari finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.