Megan Hunters Katastrophen-Geschichte »Vom Ende an« war eines der ungewöhnlichsten Romandebüts 2017. Inmitten einer Naturkatastrophe gewaltigen Ausmaßes bekommt eine Frau ihr erstes Kind und erzählt einfühlsam, ehrlich und schonungslos wie sie diese Zeit übersteht.
Handlung (Verlagstext):Eine Frau, die Erzählerin, bekommt ihr erstes Kind. Gleichzeitig sucht eine gewaltige Naturkatastrophe das Land heim. Eine Flut überschwemmt weite Teile Englands, Feuer brechen aus. Die Frau und ihr Gefährte müssen mit ihrem kleinen Sohn den Ort verlassen, Zuflucht suchen, sich auf eine Insel flüchten. Die kleine Familie wird getrennt. Der Schrecken eines sich steigernden Umweltdramas und die Intimität und das Glück einer Mutter-Kind-Liebe entfalten sich parallel. Mit den Augen eines Neugeborenen wird eine Welt entdeckt, die sich zugleich womöglich zu verabschieden droht.
»Man sagt uns, wir sollen jede Panik vermeiden.
Es gibt keine Anweisung, die bei Menschen so todsicher Panik auslöst.«
V / Seite 71
Was passiert, wenn in dem Land, das keine Flüchtlinge aufnehmen will, alle selbst zu Flüchtlingen werden? Ebenso wie Afrikaner, die nur mit der Kleidung, die sie am Leib tragen, auf einem Schlauchboot Europa ansteuern, sind aufgrund der Katastrophe, die in Hunters Roman die britische Insel heimsucht, alle auf der Suche nach festem Boden unter den Füßen, nach Hilfe und einer sicheren Zukunft.
»Am Straßenrand sehe ich Leute in Gruppen marschieren. Wie massenweise Tramper ohne Mitfahrten. Manche tragen Kinder auf den Schultern. Manche humpeln.«
IV / Seite 47
»Vom Ende an« wird als weibliches Gegenstück zu Cormac McCarthys mit dem Pulitzer Prize ausgezeichneten Roman »Die Straße« angesehen und dieser Vergleich ist auch wirklich berechtigt. Wie in dem inzwischen mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle verfilmten Roman, wird die beklemmende Ausgangssituation in präziser und poetischer Sprache geschildert, die einen regelrechten Sog entfaltet. Doch hat dieser weibliche Blickwinkel etwas so viel Hoffnungsvolleres, Lebensbejahendes. Wie McCarthys versucht auch Hunters Hauptfigur mit allen Mitteln ihr Kind zu beschützen und würde alles riskieren, um es zu versorgen. Doch trotz der schrecklichen Situation, kann sie in die schönen Momente mit dem Sohn auch vollkommen eintauchen – sie vielleicht sogar mehr genießen, als sie es mit all der ablenkenden Unterhaltungsindustrie um uns herum gekonnt hätte. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz bei ihrem Kind und nichts auf der Welt scheint sie wirklich zu erreichen, als allein der Gedanke, für dieses Wesen verantwortlich zu sein.
Die Autorin bricht ihre Figuren auf die einfachsten menschlichen Urinstinkte herunter, zeigt, wie ähnlich sich alle Menschen sind, wenn sie vor dem Nichts stehen und wie schutzlos und doch bärenstark sich eine junge Mutter fühlen kann. Die deutsche Übersetzung des Romans hat nur 160 Seiten und ist in einer Art Tagebuchform geschrieben. Aber zwischen den Zeilen verbergen sich mehrere dicke Romane. »Vom Ende an« kann auf verschiedene Weise gelesen werden und birgt viel Potential zum Nachdenken. Denn natürlich ist das erste Kind immer das Ende von etwas und der Beginn von etwas Neuem. Die beschriebenen Entwicklungen können auch unter „normalen“ Lebensumständen gefunden werden. Zum Beispiel die Entfremdung des Partners (bei Hunter als Verlieren des Ehemanns dargestellt) und die folgende noch innigere Beziehung zu dem Kind, ist eine Phase, die wohl viele junge Familien bestätigen können. Und so lassen sich fast alle Teile des Buches auch ganz anders lesen.
Erzählt wird »Vom Ende an« in zwölf Kapiteln, die, wie der Leser erst später feststellt, das erste Jahr des Sohnes beschreiben. Durch die Worte seiner Mutter können die Leser Zeb von seiner Geburt bis zu seinem ersten Schritt durch sein erstes Jahr begleiten. Das Wunder des Lebens, das die junge Frau täglich staunend an ihrem Kind beobachtet, wird parallel zu den kriegsähnlichen Zuständen erzählt, die aufgrund der Umweltkatastrophe hereinbrechen.
Auch der Stil muss hervorgehoben werden. Noch nie habe ich einen Roman gelesen, der mit so wenigen Worten so viel erzählt. Die bruchstückhaft kurzen Absätze verteilen sich wie Treibgut auf den Seiten und werden ab und an von kursiven Absätzen unterbrochen, in welchen Hunter eine passende Bibelstelle mit eigenen Worten wiedergibt. Die düsteren Worte des Alten Testaments geben der Katastrophe, die Britannien überrollt hat, eine mahnende Struktur.
Hervorzuheben ist auf jeden Fall, wie Megan Hunter mit ihrer poetischen Sprache in der Lage ist, wunderschöne Bilder zu malen. Wie sie, selbst junge Mutter, sich in ihre Figur hineindenkt und hineinfühlt, ist bemerkenswert. Die Leser könnten glauben, es handele sich wirklich um ein Tagebuch.
Für die Nennung aller handelnden Personen verwendet die Autorin jeweils nur einen Buchstaben und dennoch werden Verwechselungen vermieden, da die Charaktere gut herausgearbeitet sind. Fast hatte ich Megan Hunter im Verdacht, alle Buchstaben des Alphabets auf diese Weise auftreten lassen zu wollen, aber sie blieb dann doch bei sechzehn Personen und Buchstaben. Allerdings hat sie sich tatsächlich daran gehalten, mit dem Ende anzufangen, denn ihr Roman heißt nicht nur »Vom Ende an«, er beginnt auch mit dem letzten Buchstaben des Alphabets, nämlich mit der Geburt von Zeb, der später nur noch Z genannt wird. Und auch hier bleibt sie biblisch, denn Zeb, in der Bibel Sebulon, ist der 10. Sohn Jakobs und damit auch der Name eines der zwölf Stämme Israels. Die Bedeutung des Namens ist „verweilen“ und passt sehr gut zu der unaufgeregten Art, in der Z im Roman die Welt wahrnimmt und sich mit all den Merkwürdigkeiten um ihn herum auseinandersetzt.
»Es gibt viele Arten der Stille und nur ein Wort dafür.
Die Stille im Haus ist von fehlendem Geräusch zu etwas anderem gereift, einer verdichteten, körnigen Stille, einem Dickicht, durch das man strauchelt.«
III / Seite 40
Die Übersetzerin Karen Nölle findet genau das richtige Maß an Lakonie und Poesie, um den besonderen Stil Hunters in die deutsche Sprache zu übertragen. Eine Leseprobe zum Originaltext finden Sie auf der Website des Pan Macmillan Verlags unter dem Coverbild hier.
»Wie schnell der Alltag wieder die Zeit füllt.
Wie er aus der Erde quillt, unsichtbar, bis du darin watest.«
VIII / Seite 106
Fazit: Megan Hunters Debütroman »Vom Ende an« / »The End We Start From« ist wirklich bemerkenswert. Die Autorin erzählt poetisch, lakonisch und teilweise sogar komisch. Ursprünglichste Instinkte brechen sich mit aller Wucht Bahn und werden doch von immenser Zartheit umschlungen. Was mag nach so einem gelungenen Debüt von der jungen Britin noch kommen? Selten habe ich erlebt, dass ich ein Buch, einmal beendet, gleich noch einmal lesen möchte! Megan Hunter ist auf jeden Fall eine kluge Autorin, die neugierig auf zukünftige Werke macht und »Vom Ende an« ist ein wunderschönes Buch, das Hoffnung macht trotz ungewisser Zukunft, denn jedes Ende ist auch ein Anfang!
Megan Hunters Debütroman »Vom Ende an« (Originaltitel »The End We Start From«) ist in der Übersetzung von Karen Nölle im Mai 2017 für EUR 16,00 im Rowohlt Verlag erschienen – gebunden, 160 Seiten, ISBN 978-3406705076.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Megan Hunter, geboren 1984 in Manchester, lebt mit ihrer Familie in Cambridge. Sie studierte englische Literatur an der Sussex University und stand mit ihrer Lyrik auf der Shortlist des Bridport Prize. Ihre Erzählung »Selfing« war nominiert für den Aesthetica Creative Writing Award. »Vom Ende an« ist ihr erstes Buch, doch die Rechte wurden auf Anhieb in zahlreiche Länder verkauft.
Laila Mahfouz, 4. Februar 2018
Links:
Informationen auf den Seiten des C.H. Beck Verlages finden Sie hier.
Den Twitter-Account von Megan Hunter finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.