Lesung am 10. Oktober 2017 im kleinen Saal der Laeiszhalle Hamburg: Paula Hawkins stellte im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals ihren Roman »Into the Water« vor. Nach ihrem internationalen Bestseller »Girl on the Train« folgte damit ein weiterer tiefgründiger Thriller.
Handlung (Verlagstext):
In den letzten Tagen vor ihrem Tod rief Nel Abbott ihre Schwester an. Julia nahm nicht ab, ignorierte den Hilferuf. Jetzt ist Nel tot. Sie sei gesprungen, heißt es.
Julia kehrt nach Beckford zurück, um sich um ihre Nichte zu kümmern. Doch sie hat Angst. Angst vor diesem Ort, an den sie niemals zurückkehren wollte. Vor lang begrabenen Erinnerungen, vor dem alten Haus am Fluss, vor der Gewissheit, dass Nel niemals gesprungen wäre.
Und am meisten fürchtet Julia das Wasser und den Ort, den sie Drowning Pool nennen …
Nach ihrem internationalen Nr.-1-Bestseller »Girl on the Train« wurde der zweite Roman von Paula Hawkins natürlich mit Spannung erwartet. Und wieder zieht die Autorin ihre Leser von der ersten Seite an in ihre unheimliche Geschichte hinein. Wie schon bei ihrem Erstling ist bei Hawkins nicht von einem Thriller im bekannten Sinn zu sprechen. Es handelt sich vielmehr um einen spannenden, tiefgründigen und psychologisch gut recherchierten Roman. Mit ihrem Debütroman hat »Into the Water« außerdem gemein, dass es zwar eine Hauptfigur gibt, andere Charaktere aber ebenfalls zu Wort kommen und der Leser auch in deren Lebensschicksale eintauchen darf.
Elf verschiedene Stimmen verlangen vom Leser allerdings ein gewisses Maß an Konzentration. Einige Leser scheint der Roman zu verwirren, ich hingegen empfand gerade die Komplexität erfrischend, denn im wahren Leben ist niemand nur eine Randfigur, alle haben wir unsere eigene Geschichte und unsere Geheimnisse.
Bei der Lesung sagte Paula Hawkins, dass sie gern einige Fragen offen lassen wollte, denn das Leben ließe eben vieles unbeantwortet. Die Spannung ergibt sich auch dadurch, dass sich Geschichten überschneiden, mehrfach gänzlich anders erzählt werden. So müssen nun die Leser entscheiden, wem sie trauen, welche Geschichte sie glauben wollen.
Allen unbequemen Frauen (troublemakers) hat Paula Hawkins ihren Roman gewidmet, denn erschreckenderweise wurden diese in der Geschichte des Patriarchats allzu oft auf die eine oder andere Art beseitigt. Ob durch Hexenverbrennungen oder wie bei Hawkins in einem Gewässer, in dem die verschwinden, die stören – weit hergeholt sind ihre Ideen jedenfalls nicht. Auch heutzutage sterben allein in Großbritanien zwei Frauen pro Woche durch häusliche Gewalt.
Und auch die Literatur ist voll von diesen unbequemen Frauen, wie Christoph Göhler sie in der Übersetzung nennt. Paula Hawkins hat ihre „Top 5 der unbequemen Frauen in der Literatur“ hier aufgelistet.
»For the troublesome women who don’t conform to society’s rules. […]
It is a way in which society tries to push women back in their box.«
Wie schon in »Girl on the Train« dreht sich auch in ihrem zweiten Roman »Into the Water« alles um Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Es ist ein Thema, das Hawkins nicht loslässt. Ihr Erfolgsroman »Girl on the Train« begründete sogar ein neues Genre, das angloamerikanische Kritiker auf den Namen Domestic Noir getauft haben. In Deutschland wird es allerdings Feministischer Thriller genannt, was ich unpassend finde.
In »Girl on the Train« zeigte Paula Hawkins, wie leicht einem verunsicherten Menschen etwas eingeredet werden kann, wie das Gehirn diese Unwahrheiten als Erinnerungen abspeichert und uns an sie glauben lässt.
Auch dem Roman »Into the Water« liegt ein psychologisches Phänomen zugrunde. Paula Hawkins hat ihrem Buch ein Zitat des New Yorker Neurologen Oliver Sacks (1933 – 2015) aus seinem Sachbuch »Drachen, Doppelgänger und Dämonen« vorangestellt, das erklärt, dass eine Erinnerung sich »mit jedem Gedächtnisakt verwandelt, zerlegt, neu zusammensetzt und rekategorisiert wird«, wie inzwischen wissenschaftlich belegt wurde. Hawkins setzt diese Erkenntnis und seine Konsequenzen in »Into the Water« grandios um. Erst vor diesem Hintergrund wird die Komplexität ihrer Geschichte deutlich. Das Spiel mit den Erinnerungen macht weitere Dimensionen der Figuren und ihrer Geschichten für die Leser erfahrbar. Vermutlich ist dieser Roman beim zweiten Lesen sogar noch besser, wenn der Leser mit einem Vorwissen den Aussagen der einzelnen Figuren lauschen kann.
Übersetzung: Ich habe wieder das Original und die deutsche Übersetzung parallel gelesen und halte die Übersetzung von Christoph Göhler für gelungen. Schön hat er die Stimmungen um den unheimlichen Drowning Pool eingefangen. Im Original liest sich die Geschichte allerdings dennoch ein wenig atmosphärischer und poetischer.
Hörbuch: RandomHouse brachte ebenfalls im Mai 2017 die Hörbuchausgabe von »Into the Water« (ISBN: 978-3837137491) leider in gekürzter Form heraus. Sie finden das Hörbuch aus 2 mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 10 Stunden und 27 Minuten hier.
Die Sprecher Britta Steffenhagen, Marie Bierstedt und Simon Jäger lassen alle Figuren aus Paula Hawkins zweitem Roman lebendig werden. Allerdings musste ich leider feststellen, dass durch die Kürzungen viele Beschreibungen wegfielen, die zur unheimlichen Stimmung rund um den Drowning Pool beigetragen haben. Darunter leidet die Atmosphäre des Romans, die Hawkins wunderbar aufgebaut hat. Warum Hörbücher überhaupt gekürzt werden, begreife ich in diesem Leben wohl nicht mehr.
Diese Stelle, die ich als besonders aussagekräftig für den Roman empfand, wurde z. B. komplett weggelassen:
»Nickie hatte Nel erklärt, dass es an diesem Ort schon immer Menschen gegeben hätte, die dich vom ersten Blick an verdammen. Doch die Menschen stellten sich blind, oder nicht? Keinem gefiel der Gedanke, dass das Wasser in diesem Fluss mit dem Blut und der Galle verfemter Frauen, unglückseliger Frauen getränkt war. Trotzdem tranken sie es alle, Tag für Tag.«
Nickie / Seite 28
Übrigens wird das Filmstudio DreamWorks Pictures, das bereits Hawkins Erfolgsroman »Girl on the Train« mit Emily Blunt ins Kino gebracht hat, nun auch »Into the Water« verfilmen. Die Produzenten des Oscar-Gewinners »La La Land« Marc Platt und Jared LeBoff sollen auch »Into the Water« produzieren und Paula Hawkins selbst wird als Executive Producer fungieren. Weitere Details sind noch unklar, werden aber nach Bekanntgabe hier zu finden sein.
Es bleibt die Hoffnung, die Handlung des Films werde im Gegensatz zur Verfilmung von »Girl on the Train« nicht in die USA versetzt. Paula Hawkins‘ Geschichte ist im fiktiven Beckford, einer Kleinstadt in der englischen Grafschaft Northumberland verortet.
Fazit: Der Drowning Pool in Beckford übt eine unerklärliche Anziehungskraft auf Selbstmörderinnen aus oder wurde bei so manchem Sprung in die Tiefe nachgeholfen? Paula Hawkins‘ Roman »Into the Water« stellt viele Fragen und beantwortet ganz absichtlich nicht alle von ihnen. Es kann durchaus sein, dass unbequem gewordene Frauen im Drowning Pool entsorgt wurden, wie ein Wurf Kätzchen einer unerwünscht schwanger gewordenen Katze.
Hawkins Hauptfigur Julia muss Wunden ihrer eigenen Vergangenheit aufreißen, um Antworten zu finden, denn sie ist sicher, ihre Schwester Nel hätte sich nie im Drowning Pool ertränkt. Doch ist auf alle Erinnerungen Verlass? Was wenn Albträume wahr werden und Wahrheiten sich als Lügen entpuppen?
Paula Hawkins verlangt ihren Lesern viel ab, aber wer sich auf den Roman einlässt, wird nicht enttäuscht werden, auch wenn am Ende die sicher geglaubte Welt vielleicht auf dem Kopf steht.
Paula Hawkins‘ Roman »Into the Water« (Originaltitel: »Into the Water«) ist in der Übersetzung von Christoph Göhler im Mai 2017 für EUR 14,99 im Blanvalet Verlag erschienen – broschiert, 480 Seiten, ISBN 978-3764505233.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Paula Hawkins wuchs in Simbabwe auf. 1989 zog sie nach London, wo sie bis heute lebt. Sie arbeitete fünfzehn Jahre lang als Journalistin, bevor sie mit dem Schreiben von Romanen begann. Ab 2009 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Amy Silver mehrere Romane, von denen drei auch ins Deutsche übersetzt und im Rowohlt Verlag erschienen sind. Der Spannungsroman »Girl on the Train« wurde zu einem internationalen Phänomen. Er wurde in über 40 Sprachen übersetzt, eroberte weltweit die Bestsellerlisten und wurde 2016 mit Emily Blunt in der Hauptrolle verfilmt. Paula Hawkins‘ zweiter Spannungsroman »Into the Water« erschien im Mai 2017.
Laila Mahfouz, 26. Januar 2018
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In diesem Video liest Paula Hawkins aus ihrem Roman »Into the Water«:
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