Der 25. März 2017 ist unser letzter Tag auf der Leipziger Buchmesse, was dem Konzept der Messeleitung geschuldet ist, die eine jährlich wachsende Besucherzahl vorweisen will. Ewiges Wachstum ist nicht durchführbar und eben auch in vielen Fällen nicht wünschenswert. Als Besucher ist das Gedränge jedenfalls ab Samstagmittag nicht auszuhalten. Wir haben den Vormittag dennoch so gut wie möglich genutzt und wieder ganz besondere Autoren getroffen.
Um Bücher direkt bei den Lesungen kaufen zu können, ist oft Bargeld von Nöten. Wir reihten uns daher am EC-Automaten ein, sobald wir uns von Halle 1 aus durch die Menschenmassen gewühlt hatten. Für zigtausende Besucher gibt es auf der Messe EINEN Geldautomaten, der sicherlich täglich ab mittags leer ist. Wir warteten etwa zwanzig Minuten und nach uns standen am Ende ca. dreissig Menschen Schlange…
Wie in vielen Bereichen der Leipziger Buchmesse lässt Service und Kundenorientierung zu wünschen übrig.
Vor dem ersten geplanten Lesungsbesuch konnten wir Friedemann Karig erleben, der sein Buch »Wie wir lieben – Vom Ende der Monogamie« beim MDR vorstellte. Jede zweite Ehe wird geschieden und Karig fragte sich, warum das so ist. In seinem Sachbuch stellt er verschiedene Beziehungsmodelle vor – mal mit, mal ohne Happy End.
Friedemann Karigs Sachbuch »Wie wir lieben – Vom Ende der Monogamie« ist im Februar 2017 für EUR 20,00 im Blumenbar (Aufbau) Verlag erschienen – gebunden, 304 Seiten, ISBN 978-3351050382.
Jochen Schmidt, vielen Lesern sicherlich durch seinen Roman »Schneckenmühle« oder die »Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland« bekannt, stellte beim MDR seinen gerade erschienenen Roman »Zuckersand« vor.
Karl ist erst zwei Jahre jung und entdeckt jeden Tag Neues in der Welt. Seinen Vater lädt er eines Tages zu einem Spaziergang ein, bei dem Karl Richtung, Tempo und Etappenstops bestimmt. Karls Expedition durch Wohnung, Straße, Spielplatz und durch Geschäfte lösen beim Vater zahlreiche Erinnerungen an die eigene Kindheit aus. Versunken in seinen Betrachtungen der Gegenwart und Vergangenheit, versucht Karls Vater das Besondere an seiner eigenen Kindheit zu bewahren.
»Entscheidend ist, dass er die Zeit der Kindheit durch seinen Sohn wiederentdeckt.«
Das Buch ist ein einziger langer Spaziergang von Vater und Sohn. Die Einladung, die das Kind ausspricht und für die man sich meistens keine Zeit nimmt, führt Karls Vater in eine ganz neue und doch altvertraute Welt. Die andere Wahrnehmung, der unschuldige, neugierige Blick eines Kindes auf die Welt, Jochen Schmidt hat uns mit »Zuckersand« ein humorvolles, offenes und doch auch melancholisches Buch geschenkt.
Jochen Schmidts Roman »Zuckersand« ist im Februar 2017 für EUR 18,00 im C.H. Beck Verlag erschienen – gebunden, 206 Seiten, ISBN 978-3406705090.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier auch eine Leseprobe.
Am Vormittag wurde Benedict Wells schon am Diogenes Stand von immens vielen Lesern bedrängt und zum Signieren seiner Bücher praktisch genötigt. Und das, obwohl er von 14 – 16 Uhr für eine Signierstunde an der Messebuchhandlung vorgesehen war. Dorthin machten wir uns auf den Weg, um die eigenen Bücher signieren zu lassen.
Hier ein Einschub – eine Beschwerde über die Messebuchhandlung: Die Mitarbeiter, die vermutlich nur für die Messe angestellt worden sind, haben sich an Inkompetenz immer wieder übertroffen. Die Bücher selbst sind ohne Sinn und Verstand verstreut gewesen, so dass man bei allem Gedränge auch noch ewig mit Suchen beschäftigt war. Die Mitarbeiter waren dabei keine Hilfe. Wo die Lesung von Benedict Wells stattfinden würde, fragte ich am Info-Point der Buchhandlung, denn für die Signierstunde stand „Messebuchhandlung Halle 4“ im Programm. Die Antwort am INFO-Point: „Keine Ahnung. Hier liest er jedenfalls nicht.“ Das nenne ich doch mal Service!
Ich habe von mindestens zwei Lesungen gehört, die von der Messebuchhandlung nicht mit Büchern versorgt worden sind, da vergessen wurde, die Bücher überhaupt zu bestellen.
In den vergangenen Jahren konnte ich außerdem in der Messebuchhandlung immer die Bücher der messebesuchenden Autoren direkt signiert in der Buchhandlung erwerben. Die zwei Tische mit signierten Exemplaren waren ein Besuchermagnet und immer gut besucht. Vergeblich suchte ich auch in diesem Jahr diese Auslage. „Sie müssen sie sich bei den Lesungen signieren lassen. Signierte Bücher gab es hier noch nie zu kaufen.“ Nach solch unverschämten Aussagen mied ich die Messebuchhandlung und werde dies auch in den Folgejahren tun. Da kaufe ich lieber alle Bücher vorab und bringe sie mit. Dieser „Service“ ist kein Service sondern eine Zumutung!
Nachdem wir den Signiertisch selbst gefunden hatten, standen wir schon eine Dreiviertelstunde vor dem Termin an, damit wir die Messe an diesem turbulenten Samstag rasch verlassen konnten.
Was ist Benedict Wells doch für ein zauberhafter Mensch! Obwohl ich mich ganz sicher damit begnügt hätte, von ihm nur eine Signatur in seine vier Romane zu erhalten und ihn auch um eben dies bat, hat er mir sehr persönliche Widmungen in jedes Buch geschrieben.
Als ich ihn sanft auf die unheimlich lange Schlange der Wartenden aufmerksam machte, zuckte er nur lächelnd mit den Schultern, sagte: „Da schaue ich gar nicht hin“ und nahm sich weiter Zeit für jedes einzelne Buch. Offenbar lebt der sympathische Schriftsteller die Philosophie von Beppo-Straßenkehrer (oder eben von Michael Ende).
Benedict Wells‘ Roman »Vom Ende der Einsamkeit« ist im März 2016 für EUR 22,00 im Diogenes Verlag erschienen – gebunden, 368 Seiten, ISBN 978-3257069587.
Meine Rezension zu seinem vor einem Jahr erschienenen Roman »Vom Ende der Einsamkeit« finden Sie hier.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier auch eine Leseprobe.
Da Adolf Muschg und sein Roman »Der weisse Freitag« Anders Balari und mir am Vortag so ausnehmend gut gefallen haben, schauten wir noch am 3sat Stand vorbei.
Adolf Muschgs »Der weisse Freitag« ist im Februar 2017 für EUR 22,95 im C.H. Beck Verlag erschienen – gebunden, 251 Seiten, ISBN 978-3406706219. Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier auch eine Leseprobe.
Juliana Kálnay stellte dann am Abend ihren Debütroman »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« im Haus des Buches vor. Begleitet wurde sie von ihrer Lektorin, der Pressereferentin des Wagenbach Verlages, Annette Wassermann.
„Im Haus mit der Nummer 29 wohnt zuallererst Rita, fast so alt wie das Haus selbst. Sie ist Beobachterin, Schlichterin und Richterin, ein Knotenpunkt mit geheimnisvollen Fähigkeiten und Absichten.“ So der Ausgangspunkt des Romans. Ein Haus in irgendeiner Stadt und viele Bewohner, die alle als mehr oder weniger glaubwürdige Erzähler Geschichten erzählen und damit dem Haus Wände, Zimmer, Flure und eine Seele geben, bis es so verschachtelt ist, dass der Leser sich dem Wahn hingeben und die Hoffnung auf einen genauen Bauplan fahren lassen muss.
»Das Schöne am Buch ist, dass es etwas Organisches, in alle Richtungen Wucherndes hatte.«
Statt einem Erzähler oder einer Erzählerin das Buch zu überlassen, empfand Kálnay es als reizvoller, unterschiedliche Personen sprechen zu lassen. Wie Puzzlesteinchen fügen sich die einzelnen Geschichten ineinander und ergeben am Ende das Gesamtbild des Hauses, während sich die Realität ebenso wie das Traumbild aufgelöst haben.
Am Anfang des Buches stand die Erzählung über einen Mann, der sich ganz allmählich in einen Baum verwandelt. Diese Geschichte wurde Teil des Romans und ist ein gutes Beispiel für die Magie des Buches.
»Ich bin immer von Bildern ausgegangen, ohne mich zu fragen, was die Bilder bedeuten könnten.
Das Verschwinden, das Verwandeln, der Rückzug von der Welt spielt eine große Rolle.«
Juliana Kálnay zeichnet Sprachbilder, wagt das Unmögliche. Auffallend ist außerdem die liebevolle Figurenzeichnung. Kálnays Roman »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« wurde von der Kritik ebenso gut aufgenommen wie vom Publikum im Haus des Buches.
Ihr Roman »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« ist im Februar 2017 für EUR 20,00 im Wagenbach Verlag erschienen – gebunden, 192 Seiten, ISBN 978-3803132840.
Meine Rezension zu Juliana Kálnays Roman »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« finden Sie hier.
Fazit: Meine Meinung zu den drei Messetagen fällt ebenso aus wie schon in den vergangenen Jahren – die Autoren, Bücher und Lesungen sind einfach wunderbar und somit Reise und Strapazen wert – die Messeorganisation, der Service, die Kompetenz der Mitarbeiter ist einfach eine Katastrophe. Außerdem ist noch immer kaum etwas anderes als Fast-Food und Kantinenessen erhältlich.
Das Schlimmste allerdings ist die gleichzeitig zur Buchmesse stattfindende Manga-Comic-Convention. Erstens hat dieser verkleidete, mit Holzschuhen, die alle zehn Schritte stolpern lassen, Schwertern, Hörnern und vielem mehr ausstaffierte Haufen nichts mit Literatur zu tun, zweitens stinken diese Menschen schon nach dem ersten Tag in ihren Kostümen erbärmlich – an den Folgetagen wird dies nur noch schlimmer und drittens sind die Menschenmassen vor allem samstags und sonntags einfach nicht zu ertragen!
Je länger ich zurück bin, desto mehr treten die negativen Erfahrungen in den Hintergrund und kann ich mich an den wunderbaren Begegnungen und Erlebnissen erfreuen. Wer selbst auch einmal die Leipziger Buchmesse besuchen will, dem kann ich nur raten, das Messeprogramm im Vorfeld durchzuschauen und die Lieblingsveranstaltungen zu markieren. Auf der Messe ist diese Planung kaum mehr möglich und nichts als Verschwendung der wertvollen Zeit.
Ich danke Anders Balari für seine Zeit und seine Geduld, wenn ich ihn von einer Halle in die nächste hetzte und noch mehr Fotos von noch mehr Schriftstellern forderte und ich danke den wunderbaren Autoren für die Bücher, die mich bereichern und die Lesungen, die ich nicht vergessen werde.
Meinen Bericht zum 1. Messetag finden Sie hier, den zum 2. Messetag hier.
Laila Mahfouz, 29. März 2017
Links:
Unsere Fotostrecke mit weiteren großartigen Fotos der drei Messetage finden Sie hier. Die Rechte aller Fotos zur Lesung liegen bei Anders Balari.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.
Informationen zu Anders Balari finden Sie hier.