Lesung am 24. November 2016 im Literaturhaus Hamburg: Christoph Ransmayr las aus seinem im Oktober erschienenen Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit«. Das Publikum lauschte gebannt der Geschichte, die in eine lang vergangene Zeit versetzt und ließ sich von der Vorlesekunst des Autors verzaubern.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Der mächtigste Mann der Welt, Qiánlóng, Kaiser von China, lädt den englischen Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof. Der Meister aus London soll in der Verbotenen Stadt Uhren bauen, an denen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Zeiten des Glücks, der Kindheit, der Liebe, auch von Krankheit und Sterben abzulesen sind. Schließlich verlangt Qiánlóng, der gemäß einem seiner zahllosen Titel auch alleiniger Herr über die Zeit ist, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit. Cox weiß, dass er diesen ungeheuerlichen Auftrag nicht erfüllen kann, aber verweigert er sich dem Willen des Gottkaisers, droht ihm der Tod. Also macht er sich an die Arbeit.
Cox erreichte das chinesische Festland unter schlaffen Segeln am Morgen jenes Oktobertages, an dem Qiánlóng, der mächtigste Mann der Welt und Kaiser von China, siebenundzwanzig Steuerbeamten und Wertpapierhändlern die Nasen abschneiden ließ.
1. Kapitel Hàng zhõu, die Ankunft / Seite 9
Schon mit diesem ersten Satz des Romans vermag Christoph Ransmayr seine Leser- und Hörerschaft zu fesseln. Ob selbst gelesen, als Hörbuch oder während der Lesung und obwohl mir dabei der Inhalt beim zweiten und dritten Mal bekannt war, ließ ich mich nur zu gerne von diesem Ausnahmeautor in die Welt des Alister Cox hineinziehen, um mit ihm um sein viel zu früh verstorbenes Kind und seine ihm entfremdete Frau zu trauern und um die Geheimnisse und Gefahren Chinas zu entdecken.
Fünf Jahre, nur fünf Jahre!, aus der Überfülle der Ewigkeit waren Abigail beschieden gewesen, und er hatte, […] bis auf ein einziges, rätselhaftes Uhrwerk, das er […] in Abigails Grabstein einsetzen ließ, alle Uhren […] entfernen lassen. Die Konstruktionszeichnung dieser schon nach Monaten von Efeu und Rosen umrankten Uhr, […] sollte er erst auf seiner Werkbank in China wieder ausbreiten – dort auf der Suche nach einem Mechanismus, der sich weiter und weiter und schließlich aus der Zeit selbst in die Ewigkeit hinaus zu drehen vermochte wie ein Insekt aus der Fessel seines Kokons.
1. Kapitel Hàng zhõu, die Ankunft / Seite 21 + 22
Da es eine Wohltat ist, Christoph Ransmayr zu lauschen und das Literaturhaus mit gedämpftem Licht für die richtige Stimmung sorgte, war es ein Leichtes, in die Handlung des Romans einzutauchen. Wie schön war es da, dass der Österreicher das erste Kapitel komplett und auch noch das zweite Kapitel, allerdings in gekürzter Fassung, vorlas. Nach diesem Vorgeschmack war der Gang zum Büchertisch für die meisten Besucher eine Selbstverständlichkeit.
An einem sonnigen Tag im späten Oktober führte von den Mauern und Wehrtürmen einer Wasserstadt eine Prozession unter knallenden Fahnen mit Opfergaben beladene Elefanten ans Wasser: Diese mit Honig bestrichenen und mit Blumensamen, Melonenkernen und Weizen bestreuten Tiere […] gehörten zur letzten Hundertschaft der vom Aussterben bedrohten Elefanten Chinas. Vogelschwärme, vom Honig, den Samen und süßen Kernen angelockt, ließen die Elefanten wie tausendfach geflügelte Wesen erscheinen, die sich samt ihrer Opferlast […] vielleicht schon mit dem nächsten Stampfschritt in den Himmel erheben würden. […] Aber als die Flotte an einem der ersten Frosttage des Jahres Běijīng endlich erreichte, sollte er diese und andere Bilder seiner Fahrt auf dem Dà yùn hé vergessen haben wie einen Traum, der, von keiner Schrift und keinem Wort festgehalten, wenige Minuten nach dem Erwachen verblaßt.
2. Kapitel Dà yùn hé , die Wasserstraße / Seite 34 + 35
Die Bilder, die Christoph Ransmayr im Kopf seiner Leserschaft entstehen lässt, sind bunt und gewaltig, erschütternd und berührend und auf jeden Fall unvergesslich. »Cox oder Der Lauf der Zeit« ist ein reicher Roman – reich an Bildern, reich an Geschichte und Geschichten und reich an Fragen zum Thema Tod, Zeit und Ewigkeit.
Auch wenn es den berühmtesten Uhren- und Automatenbauer Cox wirklich gegeben hat, so hieß dieser James und nicht wie bei Ransmayr Alister und hat im Gegensatz zur Romanfigur China nie besucht und den Kaiser nie kennengelernt. Diese Geschichte ist allein dem Kopf des Autors entsprungen, der ausgedehnte Reisen in Asien unternommen und unter anderem in der Verbotenen Stadt den Pavillon der Uhren besucht hat, in welchem auch Werke James Cox‘ zu bewundern sind. All die im Roman in einer Ausführlichkeit, die trotz aller Detailverliebtheit stets zu verzaubern weiß, beschriebenen Uhren, ja Uhrenkunstwerke, sind doch am Ende nichts als Maschinen, die etwas beschreiben, das mit oder ohne sie einfach IST. Die Ewigkeit ist mit einem Maschinchen gleich welcher Komplexität nicht darzustellen, nicht zu messen, nicht einzufangen, denn sie ist so viel mehr als ein Mensch je wird begreifen können. Dennoch sind die Uhren, die Christoph Ransmayr auf dem Papier entstehen lässt und die der Phantasie, nicht der Durchführbarkeit, entstammen, wunderschöne Vorstellungen. Die einzig wirklich existierende Uhr ist eine barometrische Uhr, die durch Luftdruck noch für ein paar Milliarden Jahre am Laufen gehalten werden könnte.
Die Sprache des Romans hat mich augenblicklich betört, denn sie wirkt wie aus der Zeit gefallen. Eine Sprache, die sich dem Sujet des Romans so sehr anpasst, dass immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden muss, dass es sich bei Christoph Ransmayr um einen zeitgenössischen und eben nicht um einen klassischen Autor handelt. Diese Kunstfertigkeit macht »Cox oder Der Lauf der Zeit« schon allein zu einem großen Roman.
Trotz all des Zaubers, der von der Schönheit Chinas und der verbotenen Stadt ausgeht, schwebt doch über jedem Tag, den Cox und seine Mitarbeiter dort verbringen, die Angst vor der Allmacht des Kaisers, der sich nicht scheut, seinen Unmut durch drastische Strafen zum Ausdruck zu bringen. Die Furcht, etwas falsch zu machen, auf irgendeine ihnen unbekannte Weise das strenge Protokoll zu missachten, wächst im Verlauf des Romans und überträgt sich auf den Leser.
Christoph Ransmayr beschreibt allerdings auch zweimal ausgeführte Strafen für Taten, die sicher auf historischen Ereignissen beruhen, aber doch sehr an unsere jüngste Vergangenheit erinnern. Natürlich sind wir froh, dass die Todesstrafe bei uns abgeschafft ist, dennoch wäre eine Bestrafung der beschriebenen und überall auf der Welt derzeit stattfindenden Handlungen wünschenswert. Statt also Rettungspakete zu schnüren, ließ der Kaiser von China solche Banker grausam zu Tode foltern:
[…] sollten diese Lanzen am Hochstahlbrunnen vor den Toren der Börse aufgepflanzt werden, […] jenen Wertpapierhändlern zur Warnung, die […] durch Hamsterkäufe die Preise für Reis, Tee und Getreide in die Höhe getrieben hatten. Die […] Schädel sollten jeden, der in der Börse, in Banken und Handelshäusern volksfeindlichen Luftgeschäften nachging, daran erinnern, daß der nächste Landeplatz für eine Krähe, die ihren Schnabel in eine leere Augenhöhle schlug, der eigene Kopf sein konnte.
7. Kapitel Ling chí , eine Bestrafung / Seite 103
Auch auf die Gestaltung des Buches haben Verlag und Autor viel Wert gelegt. Heute leider schon eine Ausnahme ist dieser Roman in edlem Leinen gebunden und fasst sich daher herrlich an. Der Schutzumschlag ist ebenfalls eine Augenweide. Die Schrift glänzt in türkis und schwebt auf einem matten, dunkelroten Hintergrund, der mit chinesischen Schriftzeichen in glänzendem Dunkelrot gefüllt ist.
Fazit: Christoph Ransmayr ist mit seinem Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit« etwas Großes gelungen. Er verbindet historische Figuren und Handlungen mit einer ganz eigenen Geschichte und schickt seine Leser auf Reisen. All dies in einer einmalig schönen Sprache. Noch dazu werden essentielle Fragen aufgeworfen, die sich im Kopf des Lesers fortsetzen. Ein Buch für die anspruchsvollen Genießer unter den Lesern und eine klare Empfehlung!
Christoph Ransmayrs Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit« ist im Oktober 2016 im S. Fischer Verlag erschienen – in Leinen gebunden, 304 Seiten, EUR 22,00, ISBN 978-3100829511.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Ebenfalls im Oktober brachte der Argon Hörbuchverlag das Hörbuch »Cox oder Der Lauf der Zeit« in zum Glück ungekürzter Fassung heraus. Gelesen wird das Buch auf unnachahmliche Weise von Christoph Ransmayr selbst. Seiner Stimme und seiner Geschichte zu lauschen, ist ein wahrer Hörgenuss. Sie finden das Hörbuch hier. Eine Hörprobe finden Sie ebenfalls dort oder mit Klick aufs Bild.
Das Hörbuch ist auf 7 CDs in einer Klappdeckelschachtel mit einer Laufzeit von 8 Stunden und 55 Minuten verteilt – ISBN: 978-3839815076 – EUR 29,95.
Über den Autor: Christoph Ransmayr, wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg« und »Atlas eines ängstlichen Mannes« erschienen bisher zehn Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« und »Gerede«. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne. Zuletzt erschien der Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit«.
Laila Mahfouz, 6. Dezember 2016
Links:
Die Fotostrecke zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Alle Fotos von Laila Mahfouz.
Denis Scheck hat Christoph Ransmayr für seine ARD-Sendung DRUCKFRISCH getroffen, um über »Cox oder Der Lauf der Zeit« zu sprechen. Es lohnt sich, diesen 8-minütigen Beitrag anzusehen:
Informationen zu Christoph Ransmayr auf der Seite des S. Fischer Verlages finden Sie hier.
Die Besprechung von Ijoma Mangold zu »Cox oder Der Lauf der Zeit« möchte ich hier verlinken, denn wer anderes als die Zeitung »DIE ZEIT« könnte wohl über dieses Buch berichten. 😉 So geht es in diesem Artikel auch mehr um das Phänomen der Zeit als um den Roman eines großen Autors.
Weitere Informationen zu Christoph Ransmayr finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz