Muriel Barberys »Das Leben der Elfen« ist ein ganz besonderer Roman. Er ist ein sprachliches Ereignis und für alle, die eine poetische Sprache, Philosophie, Musik und vor allem die Natur lieben, ist es ein Hochgenuss, der nicht alle Tage zwischen zwei Buchdeckeln zu finden ist.
Handlung (der Verlagsseite entnommen):
Zwei junge Mädchen, die in verschiedenen Ländern aufwachsen: Maria, ein Findelkind, lebt in einem Dorf im Burgund, ist der Natur und den Tieren besonders verbunden, versteht deren Sprache. Clara, die als Waise im Haushalt eines Pfarrers in den Abruzzen aufgenommen wurde, spielt, einem Wunder gleich, bezaubernd Klavier. Sie wissen nichts voneinander – bis Elfen es bewirken, dass sie einander kennenlernen.
Dank ihrer besonderen Talente könnte es gelingen, die Verbindung der Menschen mit den Elfen und die einstige Harmonie zwischen Himmel und Erde wiederherzustellen. Denn es droht Krieg und eine böse Macht rüstet sich.
Neun Jahre hat sich Muriel Barbery nach ihrem Weltbestseller »Die Eleganz des Igels« Zeit gelassen und entsprechend sehnsüchtig wurde ihr neuer Roman erwartet. Obwohl die deutsche Übersetzung des Titels »Das Leben der Elfen« genau dem Originaltitel »La vie des Elfes« entspricht, ist er sehr ungeschickt gewählt. Sicher wird der Titel allein die LeserInnen abschrecken, denen die Autorin nicht durch »Die Eleganz des Igels« oder aufgrund ihres Rufs als Philosophie-Professorin bekannt ist. »Das Leben der Elfen« zählt allein schon wegen seiner einfach umwerfenden Sprache ohne Frage zur Hochliteratur. Wie aus einigen Rezensionen zu entnehmen ist, haben der Stil und die teilweise langen Sätze einige Fantasy-LeserInnen überfordert, die – durch den Titel getäuscht – auch eine ganz andere Geschichte erwartet hatten.
Schon wieder die Liebe. Man fragt sich, ob je von etwas anderem die Rede sein wird auf diesen Seiten, die der Wiedergeburt einer in den Zeitaltern verloren gegangenen Welt gewidmet sind.
André / Seite 206
Selbstverständlich kommen Elfen im Buch vor, aber sie stehen mehr für eine Lebensanschauung an sich. Das Buch ist wie eine Übertragung des Wortes Philosophie in eine Geschichte. Denn alles, was das Buch ist, ist die Liebe zur Weisheit. Und wer oder was wäre weiser als die Natur, die in diesem Roman die Hauptrolle spielt. Die zweite Geige ist für die Schönheit der Künste reserviert. Die Malerei wird mehr am Rande abgewickelt, die Musik bekommt durch Claras Klavierspiel jedoch eine tragende Rolle, aber die Macht und die Wichtigkeit von Literatur steht als wichtigste Kunst ganz vorne, ohne dass sie direkt beschrieben wird – dafür steht natürlich das Buch selbst.
Im Roman heißt es, während die Elfen in ihrer Kunst nur beschreiben könnten, was ist oder war, wären die Menschen in der Lage, durch die Kraft ihrer Phantasie Welten zu erschaffen und allein diese Gabe rechtfertige schon unsere Existenz und trage zur Schönheit und Weisheit der Natur bei, der wir angehören. (Auch wenn wir uns leider oftmals als getrennt von ihr betrachten oder empfinden. Dieser Zustand wird im Roman auch als Krankheit bezeichnet.)
Wenn sich die Kleine bewegte, nahm man eher einen schillernden Lichtkreis wahr, den die vom Leben auf den Feldern und in den Wäldern geprägten Menschen dieser Gegend mit dem Flimmern der großen Bäume verglichen. Die älteste Tante, mit ihrem besonderen Gespür für jene Dinge, die nicht erklärt werden können, dachte insgeheim, die Kleine habe etwas Magisches an sich, doch auch die anderen Dorfbewohner erkannten, dass sie sich auf eine für ein Kind ihres Alters ungewöhnliche Weise bewegte, denn sie trug ein wenig vom Zittern der Luft mit sich, geradeso wie die Libellen oder die Zweige im Wind.
Die Kleine aus Spanien / Seite 10 + 11
In ihrem Roman lässt Muriel Barbery die Elfen in unserer Welt in Tiergestalt in Erscheinung treten. Sie zeigen sich hier als Hase oder als Wildschwein, doch vor allem als Pferde. Mit diesen starken Verbündeten kämpfen Maria und Clara schließlich für die Liebe, die Weisheit und die Künste, denn eine dunkle Bedrohung will die Menschheit vernichten und damit auch all ihre Schöpfungskraft. Die Autorin zeigt, dass ein Kampf nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Bedrohung für das eigene oder andere Leben oder auch eine freiheitliche Weltanschauung groß genug ist. Außerdem verdeutlicht »Das Leben der Elfen«, dass jeder Krieg Opfer auf beiden Seiten fordert und es daher nur Verlierer geben kann.
Einerseits wollte ich das Buch fast am Stück verschlingen, um mich an seiner traumhaften Sprache und den durch sie hervorgerufenen Bildern zu berauschen, andererseits ist es fast wie mit einem Lyrikband: Nach spätestens zwanzig Seiten musste ich pausieren, um die Schönheit wirklich verinnerlichen zu können. Der Text zeichnet sich weniger durch Handlungdichte als durch viele Naturbeschreibungen und durch die sprachliche Zeichnung poetischer Bilder aus. Es ist ein sehr ruhiger Roman – wer Action sucht, hier ist auf jeden Fall falsch. Dafür erschafft Muriel Barbery Augenblicke, in denen der Leser geradezu die Erde, die Kräuter, die Jahreszeiten riechen und Claras Traummusik hören kann.
Sie erkannte, dass die Einheiten, aus denen ihr bisheriges Leben zusammengesetzt war, sich in ein Ganzes von unermesslicher Größe fügten, und mit einer Tiefenschärfe, die sie schwindlig machte, sah sie, wie die Schichten, die sie schon kannte, von Welten überlagert wurden, die dicht beieinanderlagen, sich berührten und gegeneinanderstießen.
Clara / Seite 154
Die wie mit weichem Pinsel elfenhaft auf eine Leinwand gemalt wirkenden Sätze, die Bedeutung der Handlung, die Besonderheit der Charaktere, die dem Leser rasch ans Herz wachsen – das ganze Buch strahlt in solcher Schönheit, dass es mich teilweise zum Weinen brachte. Die Übersetzung von Gabriela Zehnder schafft auf jeden Fall genug Zauber, um dem Original gerecht zu werden.
Dann verrückt die Hand der kleinen Französin das Glas und fügt ein Zweiglein Efeu hinzu, und im endlosen, strahlenden Ablauf dieser Geste erfolgt eine Umgestaltung des ganzen Universums, bei der Clara ein gigantisches Krachen und die Verschiebung des Packeises wahrnimmt – dann setzt sich alles und verstummt und erreicht den Genius der Glückseligkeit.
Leonora / Seite 108
Während der Lektüre der letzten einhundert Seiten des Romans war unser Haus tatsächlich von einer dichten Nebelwand umgeben, die sich erst langsam zu lichten begann, als ich das Buch beendet hatte. Wenn ich hinausschaute in die Welt, in der ein ganzer Wald verschwunden war, konnte ich fast das graue und das weiße Pferd erblicken. Im Nebel glaubte ich, die Verwandlung zu einem Hasen und einem Wildschwein zu erkennen und ich wusste, durch Geschichten kommt mehr in die Welt als Worte, als Ideen, irgendwo dort draußen war alles wahr. Irgendwo im Nebel warteten sie alle. Die Pferde, die Hasen, die Wildschweine, die Eichhörnchen, die Otter – alle Verbündeten im Kampf um das Gute und Schöne.
Der Umschlag ist schlicht und dennoch schön gestaltet. Das Papier der Seiten ist leider etwas dünn, aber die Schrift ist groß und gut lesbar, das Schriftbild angenehm. Das Buch schließt mit einem Inhalts- und einem besonders hilfreichen Personenverzeichnis ab, das denen helfen wird, die das Buch nicht am Stück lesen können und von der Vielzahl der Figuren verwirrt sein könnten. Da der Durchschnittsleser vor der Lektüre sicher nicht zum Ende des Romans blättert, entdeckt er dies erst, wenn er das Buch beendet hat. Eine Platzierung am Anfang des Buches wäre durchaus sinnvoller gewesen.
Fazit: Muriel Barberys Roman »Das Leben der Elfen« ist nicht allein der Philosophie wegen lesenswert. Es ist ein Loblied auf die Natur, die Kunst und auf die unerschöpfliche, schöpferische Kraft der Geschichten, die der menschlichen Phantasie entspringen; dazu ist es außerdem noch ein Mahnruf gegen den Krieg. Ein Buch, das dem großen und leider viel zu früh in die Nebel entschwundenen Michael Ende sicher gefallen hätte und das mich beglückt voller Bilder, Musik, Geschichten und einem für das Gute und Schöne kämpferischen Herzen zurücklässt.
Natürlich ist das ein Märchen, aber es ist auch die Wahrheit.
Wer kann diese Dinge schon auseinanderhalten?
Die Kleine aus Italien / Seite 34
Muriel Barberys Roman »Das Leben der Elfen« (Originaltitel: »La vie des Elfes«) ist in der Übersetzung von Gabriela Zehnder im März 2016 für EUR 22,90 im dtv Verlag erschienen – gebunden, 304 Seiten, ISBN 978-3423429023.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Muriel Barbery wurde 1969 in Casablanca geboren, studierte Philosophie in Frankreich, lebte einige Jahre in Kyoto und wohnt heute wieder in Frankreich. 2000 veröffentlichte sie ihr viel beachtetes Romandebüt »Die letzte Delikatesse« (»Une Gourmandise«). Ihr zweiter Roman, »Die Eleganz des Igels« (»L’Elégance du hérisson«), wurde zu einem großen literarischen Bestseller, in mehr als 30 Sprachen übersetzt, vielfach ausgezeichnet und als Film unter dem Titel »Die Eleganz der Madame Michel« (»Le hérisson«) 2009 in die Kinos gebracht. Der lang erwartete dritte Roman, »Das Leben der Elfen« (»La vie des elfes«), erschien 2015 in Frankreich.
Laila Mahfouz, 26. November 2016
Links:
Die Facebook-Seite der Autorin finden Sie hier.
Informationen zu Autorin und Buch auf den Seiten des dtv Verlages finden Sie hier.
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