Lesung am 31. Oktober 2016 im Literaturhaus Hamburg: Katja Lange-Müller las aus ihrem im August erschienenen Roman »Drehtür«, der ganz zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Rainer Moritz sprach mit der Autorin über ihr Buch, das Helfen und die Fragen, die bleiben.
Handlung (der Verlagsseite entnommen): Asta ist nach 22 Jahren im Dienst internationaler Hilfsorganisationen am Münchner Flughafen gestrandet. Von den Kollegen weggemobbt aus der Krankenstation in Nicaragua, wo sie zuletzt tätig war, steht sie neben einer Drehtür und raucht.
Sie wollte eigentlich gar nicht zurück. Aber weil sich ihre Fehlleistungen häuften, bekam sie ein One-Way-Ticket geschenkt. Und nun weiß sie nicht, wie es weitergehen soll. Einigermaßen wohl fühlt sie sich nur, wenn sie gebraucht wird. Und wer könnte sie, die ausgemusterte Krankenschwester, jetzt noch brauchen? Während Asta über sich nachdenkt, beobachtet sie ihre Umgebung – und meint, Menschen wiederzuerkennen, denen sie im Laufe ihres Lebens begegnet ist: den Koch der nordkoreanischen Botschaft, der eines Abends mit geschwollener Wange in einem Berliner Hauseingang hockte, ihre Kollegin Tamara, die ein glühender Fan von Tamara »Tania« Bunke war, ihren Exfreund Kurt, mit dem sie turbulente Wochen in einer tunesischen Ferienanlage verbrachte, und viele andere mehr. Mit jeder Zigarette taucht Asta tiefer in ihre Vergangenheit ein – und mit jeder Episode variiert die Erzählerin ein höchst aktuelles und existenzielles Thema: das Helfen und seine Risiken.
»Helfen, war es das? Das war’s! Aber hat das Elend mit dem Helfen angefangen? Oder umgekehrt das Helfen mit dem Elend? Helfen, helfen, helfen, und warum? Ist es uns, war es mir, wirklich immer nur ein Bedürfnis? Oder wollte ich, ohne dass es mir klar gewesen wäre, noch etwas anderes beweisen?«
Seite 32/33
„Helfen“ sei das Leitmotiv des Romans, erklärte Katja Lange-Müller im Literaturhaus, daher käme das Wort wohl auch 51 Mal im Buch vor. Dass die „Helfen-Industrie“, die einst „letzte Festung des Guten“, inzwischen auch nicht mehr so genannt werden kann, betrübt die ehemalige Krankenschwester sehr. Die Fragen, wann helfen gut ist, wann erfolgreich und wann der Helfende einfach nur versagt hat, stellte sich die Schriftstellerin immer wieder und ebenso tut es ihre Hauptfigur Asta, während sie auf ihren Koffer wartet oder auf etwas anderes und eine Zigarette nach der anderen raucht.
»Das Bedürfnis, dem Artgenossen beizustehen, das wir mit vielen Tieren teilen, selbst so niederen und unsympathischen wie Wespen oder Ameisen, nannten neunmalkluge Schwachköpfe Helfersyndrom, als sei das eine multiple, entsprechend komplizierte Krankheit, eine Psycho-Seuche, die nur Exemplare unserer Gattung befällt. Warum zum Henker soll es krank sein, den Mitmenschen gesund sehen zu wollen – oder tot, falls Heilung nicht möglich ist? Und was würde aus der Welt, wenn alle auf dem Gebiet der Medizin Tätigen plötzlich kuriert wären von diesem angeblichen Helfersyndrom, wenn sie es unwiederbringlich verloren hätten?«
Seite 39/40
Auf die Frage, warum sie ihrem letzten Roman »Böse Schafe«, der im Jahr 2007 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, ganze neun Jahre später einen so kurzen Roman folgen ließ, erklärte Katja Lange-Müller, dass wir alle ein Ablaufdatum hätten und es noch sehr viele Bücher gäbe, die gelesen werden wollten und auch sollten. Sie ist überzeugt: »Der Schriftsteller sollte versuchen, sich zu konzentrieren, bei dem, von dem er meint, dass er es unbedingt zu sagen habe.« Prosatexte sollten sein wie Brühwürfel, denen das Wasser entzogen wurde. Sie plädiert dafür, Texte zu verdichten, ohne sie löchrig zu machen. Dies brauche allerdings viel Zeit, sagte sie schmunzelnd.
Ihre Protagonistin Asta hat Katja Lange-Müller schon einem Hund in Nicaragua in der Kurzgeschichte »An einem Strand« aus dem Erzählband »Die Enten, die Frauen und die Wahrheit« von 2003 beim Sterben zuschauen lassen. Nach nunmehr dreizehn Jahren hat sich Asta ihren Weg zur Roman’heldin‘ in »Drehtür« erkämpft:
Nachdem die alte Krankenschwester Asta Arnold, welche die letzten 22 Jahre im Dienst von Hilfsorganisationen im Ausland gearbeitet hat, von ihren Kollegen unmissverständlich und nahezu unfreiwillig nach Deutschland zurückgeschickt wurde, stellt sie fest, dass ihr nicht nur die deutsche Sprache fremd geworden ist; sie sieht Deutschland nicht mehr als Heimat, wenn sie es denn je getan hatte. Während ihr Koffer irgendwo in der Welt herumreist, steht Asta rauchend vor einer Drehtür am Münchner Flughafen und kann sich der stetig und in unerhörter Klarheit und Präzision auftauchenden Erinnerungen an vergangene Begegnungen nicht erwehren. Begleitet wird diese „Erinnungsattacke“ von einer fremden Stimme in ihrem Kopf, die Asta vollkommen dominiert und nicht zur Ruhe kommen lässt.
»Asta denkt – und schweigt. Mit wem, fragt sie sich, sollte ich reden? Ich kenne doch keinen mehr, hier, am Boden meines Vaterlands, das nicht meines ist, weil es mir ebenso wenig gehört wie die Muttersprache; ich steh bloß drauf.«
Seite 13
Katja Lange-Müllers »Drehtür« ist ein Episodenroman, eine Lebens- und Weltbilanz der besonderen Art.
Astas Gedanken gehen zurück zu ihren Kolleginnen Tamara und Stella, zu dem ihr berichteten Elend der Frauen von Kalkutta, zu Tamara Bunkes Schicksal, zu dem netten Koch in Tunesien, dem zahnschmerzgeplagten Asiaten in Berlin, zu dem Maler Georg, den sie anhimmelte, zu Andy in New York, mit dem sie eine Wellenlänge teilte. Die Geschichten, die Asta einfallen sind durchaus nicht nur ihre eigenen. Wie durch eine Drehtür, durch die unzählige verschiedene Menschen schlüpfen, winden sich auch fremde Geschichten immer wieder in ihre Gedanken, Geschichten, die ihr andere erzählt, andere erlebt haben. Dennoch schwirrt parallel Astas ganzes Leben langsam und nicht chronologisch durch ihre Gedanken.
Katja Lange-Müller wechselt dabei die Erzählperspektive zwischen der ersten Person Singular, einem neutralen Erzähler und der „Stimme“, die sich erst am Ende des Romans zu erkennen gibt.
»Die Stimme, die seit etwa drei Wochen bei ihr ist und manchmal auch in ihr, weiß das. Die Stimme weiß, was geschieht, und selbst Astas Gedanken sind undenkbar ohne sie. Die Stimme bestimmt; sie entscheidet, woran Asta sich erinnert, mal quälend genau, mal verklärend sehnsüchtig. Die Stimme lenkt Astas Blicke, öffnet ihr die Ohren, verbietet ihr den Mund.«
Seite 11
Fazit: Katja Lange-Müllers »Drehtür« ist ein Roman über viele Variationen des Helfens. Über das eindeutig nicht nur menschliche Bedürfnis zu helfen und über die Macht, die Helfern erlaubt, sich über die eigentlichen Wünsche und Bedürfnisse der Hilfesuchenden hinwegzusetzen. Es ist aber auch ein Buch über Heimat, Fremde, Einsamkeit, über Hilflosigkeit, Ohnmacht in ihren verschiedenen Bedeutungen, über Erinnerungen und Versäumnisse, die nicht nachgeholt werden können. Es ist ein ganzer Kosmos an Geschichten und Anregungen, diese weiterzuspinnen. Es ist in der Tat ein schmales Büchlein von gerade 215 Seiten, doch wie der von Katja Lange-Müller heraufbeschworene Brühwürfel lösen sich die einzelnen Geschichten in den Gedanken des Lesers auf und entwickeln dabei ungeahnte Dimensionen.
Katja Lange-Müllers Roman »Drehtür« ist im August 2016 im Kiepenheuer & Witsch Verlag für EUR 19,00 erschienen – gebunden, 215 Seiten, ISBN 978-3462049343.
Hier liest Katja Lange-Müller zehn Seiten aus ihrem Roman »Drehtür«:
Biographische Informationen zur Autorin finden Sie aufgrund der Ausführlichkeit ausnahmsweise ganz unten.
Laila Mahfouz, 3. November 2016
Links:
Die Fotostrecke zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Alle Fotos von Laila Mahfouz.
Informationen zur Autorin und ihren Büchern finden Sie hier auf den Seiten des Kiepenheuer & Witsch Verlages.
Weitere Informationen zu Katja Lange-Müller finden Sie hier.
Denis Scheck sprach mit Katja Lange-Müller über ihren Roman »Drehtür« in seiner ARD-Sendung DRUCKFRISCH. Den Video-Beitrag finden Sie hier.
Über die Autorin: Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Berlin-Lichtenberg. Neun Jahre Schule an der 19. Oberschule Berlin-Friedrichshain. Relegation wegen »unsozialistischen Verhaltens«, Zehn-Klassen-Abschluß an der Oberschule Schwedter Straße, Berlin-Mitte. Anschließend Schriftsetzerlehre an der BBS »Rudi Arndt«. Vier Jahre Arbeit in der Druckerei und Bild-Redaktion der Berliner Zeitung. Anschließend sechs Jahre pflegerische Hilfskraft auf geschlossenen psychiatrischen Frauenstationen in der Berliner Charité und im Fachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie Berlin-Herzberge.
Von 1979 bis 1982 Studium am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig; danach einjähriger Studienaufenthalt in der Mongolischen Volksrepublik und Arbeit in der Teppichfabrik Willhelm Pieck in Ulan-Bator. Danach ein halbes Jahr Lektoratsmitarbeiterin im Altberliner Verlag, dann im November 1984 Übersiedlung nach Westberlin.
1986 erste Veröffentlichung eines eigenen Buches:»Wehleid – wie im Leben.« Prosa. “S. Fischer Verlag”, Frankfurt a.M., Reihe Collektion.
Ebenfalls 1986 Ingeborg Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt. Danach zwei Hörspiele (RIAS, WDR), Theaterdramaturgie, Arbeit für Theater heute.
1988 »Kasper Mauser – Die Feigheit vorm Freund«. Erzählung. Kiepenheuer & Witsch, Köln.
1989/1990 Stadtschreiberpreis von Bergen-Enkheim, Frankfurt a. M.
1990 »Kasper Mauser« als Taschenbuch bei S. Fischer. 1990/1991 New York-Stipendium der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und des Deutschen Hauses in New York, 3 Monate New-York-Aufenthalt.
1993-1995 Arbeit an einem neuen Buch, das vom Deutschen Literaturfonds Darmstadt gefördert wird. Das Buch erscheint 1995 unter dem Titel Verfrühte Tierliebe bei Kiepenheuer & Witsch; Köln.
1995 Alfred Döblin-Preis, 1996 Berliner Literaturpreis.
1997 Herausgeberin der Anthologie Bahnhof Berlin (dtv).
2001 Stadtschreiberin in Rheinsberg gemeinsam mit Jürgen Israel.
Im Juni 2001 erhält Katja Lange-Müller für ihren Roman Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei den Preis der SWR-Bestenliste. Das Werk steht von Oktober bis Dezember 2000 auf der Bestenliste des Südwestrundfunks.
2002 ist sie Stadtschreiberin in Mainz, 2004 Burgschreiberin in Beeskow/Oder-Spree.
2008 erhielt sie den Preis der LiteraTour Nord, den Gerty-Spies-Literaturpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Im Jahr 2012/2013 war sie Stipendiatin der Villa Massimo, erhielt den Kleist-Preis und war 2013/2014 Stipendiatin der Kulturakademie Tarabaya Istanbul. Im Sommersemester 2016 bekam sie die Gastdozentur für Poetik an der Frankfurter Goethe-Universität.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.