Jonas Karlssons Roman »Das Zimmer« zeichnet den Büroalltag in einer Behörde aus der Sicht eines Menschen, der in vielem anders ist als die anderen und aus diesem Grund auf Ablehnung stösst. Das Psychogramm der Hauptperson ist fesselnd, der Roman ebenso faszinierend wie verstörend.
Handlung (der Verlagsseite entnommen): Von unausstehlichen Kollegen umgeben, in ein Großraumbüro gepresst, kann Björn sein Glück kaum fassen, als er eines Tages ein kleines, geheimes Zimmer entdeckt. Ein Büro nur für sich, auf demselben Stockwerk, im Flur gleich neben der Tonne für das Altpapier und dem Aufzug. Hier drinnen sind das Chaos und die Enge der Bürowabenwelt vergessen, Björn hat plötzlich Spaß an seiner Arbeit. Alles wäre gut, gäbe es da seine Kollegen nicht. Die treibt Björns bizarres Verhalten fast zur Verzweiflung. Und zu allem Übel tun sie auch noch so, als existiere dieses Zimmer überhaupt nicht.
Während Björn sich im vermeintlichen Zimmer aufhält, sehen ihn seine Kollegen regungslos an der Wand im Flur lehnen. Da er von allen gemobbt wird, betreibt Björn starke Verdrängung. Er »denkt sich Leute weg« oder beschließt einfach, »dass es sie gar nicht gibt«. Während er sich als bedeutender und klüger sieht, lassen seine Kollegen keine Möglichkeit aus, ihn bloßzustellen oder sich über ihn lustig zu machen.
Wenn er in die Kaffeeküche kommt, brechen die Unterhaltungen ab. Man tuschelt über ihn und redet sogar in seiner Anwesenheit über ihn. Bei jeder Gelegenheit wird sein Verhalten beim Chef angeschwärzt. Natürlich beginnt er schon bald, die Dinge auf seine Weise anzugehen. Die Privatsphäre seines speziellen Zimmers gibt ihm die ersehnte Ruhe vor dem Großraumbüro, lässt ihn Kraft schöpfen, so dass er in der Lage ist, auch die kniffligsten Akten zu bearbeiten.
Björns Kollegen können mit seiner Methode wenig anfangen. Es scheint allen egal zu sein, dass die Arbeit grandios erledigt wird. Die Anpassung wird über die Effektivität gestellt. Sicher wählte Jonas Karlsson als Schauplatz seines Romans eine Behörde und kein Wirtschaftsunternehmen, um dies auf die Spitze treiben zu können. Die Behörde und ihre Arbeit bleiben in ihrer Nebulösität ungreifbar und die dort erstellten Rahmenbeschlüsse inhaltslos. Der Umgang mit Björn und seinen Fähigkeiten ist ein Armutszeugnis für jede Firma und eines, an dessen Sturheit Björn letztlich zerbricht. Das Ende dieses kafkaesken Romans wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten. Die Spannung hält sich bis zum Schluss.
»Niemand unterhielt sich mit mir oder sah mich auch nur an, aber ich war da. […] Anfangs fiel mir auf, dass alles zum Erliegen kam, sobald ich mich zu der Gruppe gesellte. Mit der Zeit übernahm ich dann die Funktion eines passiven Teilnehmers, desjenigen, um den sich niemand schert […]
Ich […] zog mich an, als wollte ich gehen, kontrollierte nochmals, dass niemand mehr da war, schlich mich zu dem Flur mit den Toiletten, schaltete das Licht an und schob mich zum zehnten Mal in das Zimmer.«
(Kapitel 45, Seite 128f)
Um seine ‚Wahnvorstellung‘ des Zimmers loszuwerden, ersucht Björns Chef ihn, einen Psychiater aufzusuchen. Dieser allerdings kann nichts Ungewöhnliches an Björn feststellen. Dadurch wird beim Leser der Eindruck gefestigt, dass Björn zwar sehr anders, aber eben nicht verrückt und schon gar nicht gefährlich ist. Dass er durch das ihm an diesem wie offenbar auch am vorherigen Arbeitsplatz widerfahrene Mobbing zu einem misstrauischen und feindselig gesinnten Menschen geworden ist, empfinde ich als verständlich, auch wenn es mir Björn insgesamt nicht sympathischer macht.
Was lesen wir hier? Eine Bürogroteske berichtet von einem unzuverlässigen Ich-Erzähler? Eine Parabel zur modernen Arbeitswelt? Ein Paradebeispiel von Mobbing im Büroalltag? Ich glaube schon, dass der Roman all diese Teile beinhaltet, aber dass er vor allem eins verdeutlicht: Die Unterdrückung des Andersartigen, die Intoleranz, die fester Bestandteil des Verhaltens der meisten Menschen ist.
Naturvölker haben diejenigen unter ihnen, die offensichtlich einen Zugang zu anderen Sphären besaßen, Schamanen genannt und von ihrer Weisheit profitiert. Für rationale Menschen ist ein Verhalten, das von der Norm abweicht, allerdings erschreckend und muss bekämpft werden. (Dabei geraten z. B. auch Musiker, vor allem in Jam Sessions, mitunter in eine Art Trance, in einen Flow, der sie mit den anderen verschmelzen und an einen anderen Ort gelangen lässt.) Der Mensch war zu allen Zeiten in der Lage, sich mittels seiner Vorstellungskraft an jeden beliebigen Ort zu begeben. Wenn diese Fähigkeit nun von besonderem Nutzen ist, soll sie etwas Schlechtes sein? Wem schadet Björn, wenn er dort im Flur an der Wand lehnt? Nur den Bornierten, die mit Scheuklappen in ihrem gleichförmigen Arbeitsalltag umhertrotten, keinen Schritt hinterfragen und Björns Verhalten nicht verstehen und damit auch nicht tolerieren können.
»Beschränkte Menschen sehen die Welt nicht, wie sie ist. Sie sehen nur, was sie sehen wollen. Sie nehmen keine Nuancen wahr. Diese kleinen Dinge, die den Unterschied machen.«
(Kapitel 8, Seite 24)
Seit längerer Zeit sind Mnemotechniken bekannt, die den Kopf freimachen und somit die Arbeit strukturierter, effektiver und stressfreier von der Hand gehen lassen. Ohne es zu wissen, nutzt Björn die sogenannte Loci-Methode, indem er einen fiktiven Ort imaginiert. Dort ist er in der Lage, alles klar zu sehen und eine präzise ausgeführte Arbeit abzuliefern, die alle in Staunen versetzt. Sein Chef hätte nun erklären müssen, dass Björns Methode ihm egal ist, dass er ihm aber die Möglichkeit dazu geben wird, wenn das Ergebnis so hervorragend ist. Das Gegenteil ist leider der Fall. Der Chef verbietet ihm, das Zimmer zukünftig zu betreten.
»In dem Zimmer fand ich die Struktur, die ich zum Arbeiten brauchte. […] Ich entdeckte, dass es mir ganz leicht von der Hand ging, Dinge zu entscheiden.«
(Kapitel 54, Seite 145)
Wenn sich z. B. in der TV-Serie »Sherlock« Benedict Cumberbatch als Sherlock Holmes in seinen Gedächtnispalast zurückzieht, um seine Fälle zu lösen, dann wird dies vom Zuschauer als gegeben hingenommen, wenn wir diesem Phänomen aber direkt gegenüberstehen, sagen wir mal, weil ein Kollege an der Wand lehnt und hinterher seine Arbeit grandios erledigt, dann wird dieser für verrückt erklärt.
Erneut möchte ich in diesem Zusammenhang auf Khalil Gibrans wunderbare Lebensweisheit »Der weise König« aufmerksam machen, in der das Verhalten der Menschen, einer anderen Sichtweise bzw. einem anderen Verhalten gegenüber, grossartig dargestellt wird. Leider scheinen sich auch einige Rezensenten ebenso zu verhalten, da sie Karlssons Roman wörtlich lasen und ebenso besprachen. Sie bezeichnen die Hauptperson Björn als ‚offensichtlich wahnhaft‘ und mir stellen sich abermals die Fragen: Warum soll immer der eine verrückt sein, der anders denkt? Warum wird sofort ausgeschlossen, dass vielleicht mit allen anderen etwas nicht stimmt und nur der eine den Durchblick hat? Leider wird diese Möglichkeit in dem Moment, da etwas Neues in die Welt kommt, untergraben und bekämpft. Oder wie schon Arthur Schopenhauer wusste: »Ein neuer Gedanke wird zuerst verlacht, dann bekämpft, bis er nach längerer Zeit als selbstverständlich gilt.«
Bemerkungswert gut ist das Umschlagbild der deutschen Ausgabe gewählt. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass die Krawatte aus einem dicken Tau besteht. Die Büroarbeit als Vergleich mit der Vollstreckung des Todesurteils durch den Strick. Selbst wenn man nicht über das Bild nachdenkt, setzt fast augenblicklich eine Beklemmung ein, die sich als Einleitung für die bedrückende Lektüre hervorragend eignet.
Fazit: Jonas Karlssons Roman »Das Zimmer« schafft auf nur 173 Seiten eine spannende, beklemmende und teilweise verstörende Atmosphäre, die den Leser sofort in den Bann zieht. Dieses Buch ist am besten am Stück zu lesen, um seine Wirkung zu erhöhen. Vieles steht hier zwischen den Zeilen. Es ist ein Buch, über das sich viel nachdenken lässt und das lange nicht loslässt. Eine unbedingte Empfehlung!
(Nach der Lektüre habe ich mir sofort Karlssons erstes Buch »Als sich der Zufall zwischen die Stühle setzte« ebenfalls besorgt.)
Jonas Karlssons Roman »Das Zimmer« ist im April 2016 im Luchterhand Verlag in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Paul Berf (Originaltitel: Rummet) für EUR 17,99 erschienen – gebunden, 176 Seiten, ISBN 978-3630874609.
Über den Autor: Jonas Karlsson, 1971 in Södertälje in der Nähe von Stockholm geboren, ist eine der vielversprechendsten literarischen Stimmen Schwedens. Karlsson debütierte 2007 mit »Det andra målet« als Schriftsteller. Die deutsche Übersetzung erschien 2009 unter dem Titel »Als der Zufall sich zwischen die Stühle setzte« im Pendo Verlag. Die New York Times lobte Karlssons zweiten Roman »Rummet« / »Das Zimmer« als ‚meisterhaft‘, die Financial Times nannte es ‚brillant‘. Das Buch brachte dem Schweden den internationalen Durchbruch. Der 45-Jährige zählt zu den angesehensten Schauspielern seines Landes und wurde bereits zweimal mit dem schwedischen Filmpreis ausgezeichnet. Karlsson hat bislang außerdem drei Kurzgeschichtensammlungen und ein Theaterstück veröffentlicht.
Laila Mahfouz, 24. September 2016
Alle Fotos © Appendix Fotografi
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