In Rachel Cusks Roman »Outline« reist eine Autorin nach ihrer gescheiterten Ehe nach Athen, lässt sich von anderen Menschen deren Schicksale beschreiben und versucht langsam, ihren leeren und schon verblassenden Umriss wieder mit Inhalt zu füllen. Ein großartiger Roman über Beziehungen in der heutigen Zeit und über das Leben selbst.
Handlung (der Verlagsseite entnommen): Eine Schriftstellerin reist im Hochsommer nach Athen, um dort einen Schreibkurs zu geben. Während ihre eigenen Verhältnisse vorerst im Dunkeln bleiben, wird sie zur Zuhörerin einer Reihe von Lebensgeschichten und -beichten. Beginnend mit dem Sitznachbarn auf dem Hinflug, seinen Schilderungen von schnellen Booten und gescheiterten Ehen, erzählen ihre Bekanntschaften von Ängsten, Begierden, Versäumnissen und Lieblingstheorien. In der erstickenden Hitze und dem Lärm der Stadt schaffen diese verschiedenen Stimmen ein komplexes Tableau menschlichen Lebens. Und dabei wird, zunächst in Umrissen, zugleich das Bild einer Frau – der Schriftstellerin – kenntlich, die zu lernen beginnt, einem einschneidenden Verlust zu begegnen.
2012 veröffentlichte Rachel Cusk ihr autobiografisches Buch „Aftermath“, in dem sie vom Ende ihrer Ehe mit dem Fotografen Adrian Clarke berichtet. In »Outline« erzählt sie von der Autorin Faye, die das Ende ihrer Ehe gerade überstanden hat, sich aber als Autorin noch nicht wieder gefunden hat. Die Ich-Erzählerin Faye, deren Name nur ein einziges Mal erwähnt wird, wirkt wie von sich selbst losgelöst, fast so, als hätte sie ihr Leben irgendwie zurückgelassen und könne es nicht mehr erreichen. Sie selbt bleibt, wie eine Hülle ohne Inhalt, ein purer Umriss – Outline.
»Während er sprach, sah sie sich selbst als Form, als Umriss, und alle Details legten sich von außen daran, während der Umriss selbst leer blieb. Und dennoch vermittelte ihr dieser Umriss, obwohl sein Inhalt unbekannt war, zum ersten Mal eine Ahnung davon, wer sie jetzt sein könnte.«
(Kapitel 10, Seite 227)
Da Faye den Glauben an das Erzählen von Geschichten verloren hat, ist ihr das Schreiben derzeit unmöglich. Allerdings fungiert sie während ihrer Reise als distanzierte Beobachterin und Chronistin ihrer Mitmenschen und gibt von sich fast nichts preis. So gelingt es ihr, sich dem Leser weitestgehend zu entziehen und in die Geschichten und Leben der anderen einzutauchen. Die meisten Geschichten spiegeln auch die Empfindungen der Zuhörerin. Fast ist es so, als wären alle Personen des Romans abgespaltene Identitäten der Autorin, denen sie sich langsam zu nähern versucht und deren Handlungsweise sie mal mehr, mal weniger nachvollziehen kann. Wie durch ein Wunder wird das Bild der Frau, die das ganze Buch über fast nur zuhört, gerade durch die Geschichten der anderen immer klarer.
»Ich hatte das Gefühl, kilometerweit schwimmen zu können, immer aufs Meer hinaus. Der Wunsch nach Freiheit und Bewegung trieb mich an, als würde ich an einem Faden vorn an meiner Brust gezogen. […] Es war einfach nur der Wunsch, meinem eigenen Leben zu entkommen. Der Faden führte nirgendwohin, außer vielleicht in die grenzenlose Ödnis der Anonymität.«
(Kapitel 4, Seite 73)
Es ist faszinierend, wie bereitwillig alle Faye von ihren Leben berichten. Es gibt Menschen, die so gut zuhören, dass es anderen fast ein Bedürfnis ist, ihr Herz auszuschütten. Auch schafft die eigene Verletzlichkeit der Zuhörerin Vertrauen bei den Erzählenden. In allen Gesprächen geht es um Beziehungen zu Partnern, Kindern oder Eltern. Es geht um richtige und scheinbar falsche Entscheidungen, zerplatzte Traumschlösser, um das Scheitern von Beziehungen, um Neuanfänge. Es geht darum, ob sich die eigene Identität in einer Beziehung bewahren lässt. Faye merkt schnell, dass fast alle Erzähler und auch die Erinnerung selbst unzuverlässig sind, dass die Wahrheit stets subjektiv ist, dass es keine »geteilte Lebenswirklichkeit« gibt.
»[…] ich musste feststellen, dass ich, wenn ich etwas Beeindruckendes gelesen hatte, immer öfter dazu neigte, gar nicht darüber zu sprechen. Was ich persönlich als wahr erachtete, schien sich von dem Bedürfnis, die anderen zu überzeugen, abgelöst zu haben. Ich wollte niemanden mehr überzeugen, von gar nichts.«
(Kapitel 1, Seite 20)
Die Erzählweise in »Outline« ist etwas Besonderes, denn obwohl der Erzählfluss scheinbar sanft dahinplätschert, entwickelt er einen starken Sog und zieht die eigenen Gedanken und Gefühle mit ungeahnter Gewalt mit sich, um sie mit dem Gedankenwasser des Gelesenen zu vermischen. Existenzielle Fragen werden ganz nebenbei in Gesprächen verhandelt und unangenehme Wahrheiten brutal ausgesprochen. Autobiographische Einzelheiten von Rachel Cusk sind dabei nicht zu übersehen.
»[…] dieser Moment war so intensiv, dass wir gewissermaßen ewig in ihm weiterleben werden, während andere Erlebnisse in Vergessenheit geraten. […] Er ist nicht Teil einer Abfolge, sondern existiert für sich allein […]«
(Kapitel 5, Seite 119)
Fazit: »Outline« ist ein wunderbarer, lebenskluger und philosophischer Roman. Vermutlich ist es eher eine Buchempfehlung für alle Leser ab dreißig Jahren, denn eine gewisse Lebenserfahrung ist nötig, um die Beziehungsproblematiken nachvollziehen zu können und mit Gewinn zu lesen. Rachel Cusks wunderbare Erzählweise lässt uns mit Leichtigkeit selbst in die dunkelsten Kapitel des Lebens blicken und mit einem verstehenden Lächeln wieder daraus hervortauchen.
Hier ein Autorenvideo mit Rachel Cusk zu ihrem Roman »Outline«:
Rachel Cusks Roman »Outline« ist im März 2016 im Suhrkamp Verlag in der Übersetzung aus dem Englischen von Eva Bonné für EUR 19,95 erschienen – gebunden, 235 Seiten, ISBN 978-3518425282.
Über die Autorin: Rachel Cusk wurde 1967 in Kanada geboren. Sie hat acht Romane sowie drei Sachbücher geschrieben und ist dafür vielfach ausgezeichnet worden, u. a. 1993 mit dem Whitbread First Novel Award für ihren Roman »Saving Agnes« und 1997 mit dem Somerset Maugham Award für »The Country Life« (»Aufs Land«). »Outline« ist ihr achter Roman. Rachel Cusk lebt heute in England.
Laila Mahfouz, 19. September 2016
Links:
Weitere Informationen zu Rachel Cusk und der deutschen Übersetzung von »Outline« finden Sie auf der Seite des Suhrkamp Verlages.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Weitere Informationen zu Rachel Cusk und den Originalausgaben finden Sie auf der Seite des Faber & Faber Verlages.
Weitere Informationen zu Rachel Cusk finden Sie hier.
Ein Interview mit Rachel Cusk wurde in der Welt veröffentlicht. Sie finden es hier.
Ein Video-Interview mit Rachel Cusk geführt von Dr. Meg Jensen für Beyond Borders Scotland finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.