Daniel Goetschs Roman »Ein Niemand« ist ein Spiel mit der Identität und der Möglichkeit, in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Souverän bewegt sich Daniel Goetsch durch Raum und Zeit Osteuropas und lässt den Leser stets im Zweifel über die Glaubwürdigkeit des Erzählers. Ein raffinierter Roman mit skurriler Handlung und faszinierenden Figuren.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Es lief schon besser für Tom Kulisch: Seine Freundin hat ihn verlassen, seine Arbeit als Übersetzer von Betriebsanleitungen treibt ihn in den Wahnsinn und die Nächte werden immer länger – als er eines Morgens Zeuge eines tödlichen Unfalls wird. Eine Verwechslung katapultiert ihn in ein anderes Leben und er läuft Gefahr, sich darin zu verlieren.
Wer träumt nicht manchmal davon, sein kompliziert gewordenes Leben hinter sich zu lassen, ganz von vorn zu beginnen, in die Haut eines anderen zu schlüpfen? Aufgrund einer Verwechslung, die Tom Kulisch nicht aufklärt, und einer frappierenden Ähnlichkeit zu einem Unfallopfer ist ihm dieses Kunststück möglich. Er nutzt die dargebotene Chance, ohne viel darüber nachzudenken, denn in Berlin hält ihn nichts mehr. So bricht er alle Brücken hinter sich ab und fährt mit den Papieren und der Fahrkarte des Fremden nach Prag und somit nicht nur in eine ungewisse Zukunft, sondern auch in ein vollkommen fremdes Leben hinein.
»Wer ist er? Die Frage hallte wider, waberte durch das Treppenhaus, legte sich wie ein Film über die Dielen, die Tapete, die Zimmerdecke, verdunkelte den Augenblick, ließ den Raum auf magische Weise schrumpfen, erzeugte eine Stimmung, die nach Wahrheit schrie, einer Wahrheit, die jede Sekunde der vergangenen Wochen umgedeutet hätte, und das Echo jener Frage wirkte fort, knisterte durch sämtliche Bewusstseinsschichten hindurch, übertrug sich auf jeden Gedanken, lenkte jeden Hirnstrom und erreichte schließlich das Gewissen des vermeintlichen Ion.«
(Seite 25)
Ab dem Moment, da er in den Zug steigt, lautet sein Name Ion Rebreanu und diese Identität kommt mit einem Wohnungsschlüssel in Prag und einem Stapel Postkarten einer gewissen Doina, die Tom Kulisch ebenso verwirren wie faszinieren. Sein Nachbar Marincek erklärt, dass ein gewisser Cvetković nicht begeistert sein wird, dass Ion seinen Auftrag in Berlin nicht ausgeführt hat. Marincek und Cvetković begeistern sich für Ota Šiks Idee des Dritten Wegs und wollen diese umgesetzt wissen. Sie zählen offenbar auf Ions Beteiligung an ihrem Plan.
Außerdem warnt Marincek den verständnislosen Tom eindringlich vor Ions Freundin Mascha, die er als „Furie“ bezeichnet. Kurze Zeit später lernt Tom Mascha tatsächlich kennen und verliebt sich in die dunkle Schönheit. Aber sie wittert rasch einen Schwindel und ist bald schon der einzige Mensch, der nicht auf den neuen Ion hereinfällt. Doch Mascha ist schwierig. Sie vermisst Ion und lässt Tom daher näher an sich heran, als sie anfangs gewollt hatte. Vielleicht findet sie in Tom sogar, was sie bei Ion immmer vermisst hat? Der Rumäne war nämlich nicht nur in ziemlich undurchsichtige Geschäfte verwickelt, sein Verhalten Frauen gegenüber ließ auch zu wünschen übrig.
»Und alles zerfloss und floss, so dass man sich treiben lassen konnte, und stets fand man jemanden, der neben einem hertrieb, weil alle im Grunde Treibholz waren, und der Fluss war ein guter Fluss, und er besaß seine eigene Zeit und mündete irgendwann in einen Strom, und dieser Strom war ein guter Strom, und er schwemmte einen weiter durch Zeiten und Orte, ohne innezuhalten, um schließlich in einem Ozean aufzugehen, dessen Größe so unermesslich war, dass einen ein Gefühl überkam, das an Erfüllung grenzte, dieses Gefühl, wenn man auf den Ozean zusteuerte und wusste, dass man in ihm versinken würde, dieses ozeanische Gefühl.«
(Seite 36)
Daniel Goetsch führt den Leser auf Ions und Toms Spuren durch die jüngere Geschichte Europas – spannend schildert er die Reisen durch Bukarest, Berlin und das Prag von heute sowie das Prag zur Zeit des Prager Frühlings 1968. Goetschs Protagonist Tom Kulisch ist eine wirklich faszinierende Persönlichkeit. Statt sich seinen Problemen zu stellen, wählt er die absolute Verdrängung inklusive Wechsel der Identität. Sicher hofft er dadurch, von all seinen Problemen erlöst zu werden. Doch er trägt sie mit sich, wohin er auch geht und addiert Ions Probleme zu seinen eigenen. Dennoch scheint Tom Kulisch in gleichem Maße lebendiger zu werden, wie er mehr über den Toten herausfindet. Wie ein Chamäleon gleicht Tom sich seinem neuen Ich an – ob er noch in Berlin die Wohnung von Alexander Rensing übernimmt und bald schon nicht mehr weiß, welche Zahnbürste ihm gehört oder ob er in die Identität von Ion Rebreanu schlüpft: Tom Kulisch selbst bleibt dabei vollkommen rätselhaft und fast gesichtslos.
»Kulisch rang sich wenigstens zu einem Schmunzeln durch, während mit einem Mal das Bild, das er von Ion hatte, in Bewegung geriet, die papierne Gestalt auf dem Gehsteig blähte sich auf, als hätte ihr jemand Helium eingehaucht, der Kopf begann zu wackeln, die Augen rollten in ihren Höhlen, aus dem Mund drang ein Kurzwellengefiepe.«
(Seite 54/55)
Der Roman beginnt mit dem Verhör eines jungen Mannes bei der Flughafenwache des Flughafens Berlin Tegel am 27. Dezember 2006. Fünf Tage lang versucht dieser, dessen Papiere ihn als Rumänen Ion Rebreanu ausweisen, durch detailreiche Beschreibung seiner Erlebnisse zu beweisen, dass sein Name Tom Kulisch ist. Das Gespräch beim Verhör und Kulischs Erzählung wechseln sich ab. Durch diesen Romanaufbau wird die Spannung wesentlich erhöht, denn der Leser kann sich mit dem Verhörenden und dem Verhörten gleichermaßen identifizieren.
– »Sie geben an, die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen. […] Ihr Pass weist Sie eindeutig als Rumänen aus. Ihr Name lautet Ion Rebreanu.«
– »Das ist ein Missverständnis. […] Ich heiße Tom Kulisch. Ich bin Deutscher. […] Natürlich war ich ich. […] Vielleicht nicht mehr ganz derselbe, der ich gewesen war. […] Nicht mehr jener Tom Kulisch, der aus Berlin weggefahren war.«
(Seite 9 + 117)
Fazit: Daniel Goetsch schafft es, in seinem Roman »Ein Niemand« den Leser durch die mysteriöse Atmosphäre, die undurchsichtigen Figuren von Ion Rebreanu und Tom Kulisch sowie das Verhör um die wahre Identität zu fesseln. Über allem schweben die Bedrohung durch Ions Vergangenheit, das Befinden von Toms Ex-Freundin, der gescheiterten Schriftstellerin Julia, und die Duineser Elegien Rainer Maria Rilkes. Ob der Verhörte Ion Rebreanu oder Tom Kulisch ist, wird hier nicht verraten. Sicher ist er für alle Leser des Roman auf jeden Fall am Ende eines nicht mehr: ein Niemand.
Wer spannende Unterhaltung, eine gut durchdachte und recherchierte Geschichte und interessante Charaktere mag, sollte sich diesen Roman nicht entgehen lassen.
Daniel Goetschs Roman »Ein Niemand« ist im Februar 2016 im Klett-Cotta Verlag erschienen – gebunden, 222 Seiten, EUR 18,95, ISBN 978-3608980219.
Über den Autor: Daniel Goetsch geboren 1968 in Zürich, lebt als freier Autor in Berlin. Er verfasste mehrere Romane, darunter »Herz aus Sand« und »Ben Kader«, sowie Dramen und Hörspiele. Für »Ein Niemand « erhielt er das HALMA-Stipendium des europäischen Netzwerks literarischer Zentren.
Laila Mahfouz, 27. Juli 2016
Links:
Informationen zu Daniel Goetsch auf der Seite des Klett-Cotta Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
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Die Website von Daniel Goetsch finden Sie hier.
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