17. November 2015: Die neuseeländische Autorin Eleanor Catton war zu Gast im Literaturhaus Hamburg. Gebannt verfolgte das Publikum die anregende Unterhaltung zwischen der jungen Autorin und der Moderatorin Susanne Weingarten und lauschte der warmen Stimme von Stefan Kurt, der die deutschen Passagen aus dem Roman »Die Gestirne« las.
Hier die Beschreibung vom Verlag und die ersten Sätze des Romans:
Als der Schotte Walter Moody im Jahr 1866 nach schwerer Überfahrt nachts in der Hafenstadt Hokitika anlandet, trifft er im Rauchzimmer des örtlichen Hotels auf eine Versammlung von zwölf Männern, die eine Serie ungelöster Verbrechen verhandeln. Und schon bald wird Moody hineingezogen in die rätselhaften Verstrickungen der kleinen Goldgräbergemeinde, in das schicksalhafte Netz, das so mysteriös ist wie der Nachthimmel selbst.
»Die im Rauchzimmer des Crown Hotel versammelten zwölf Männer wirkten, als hätten sie sich dort zufällig eingefunden. Aus ihrem Betragen und ihrer Kleidung zu folgern – Gehrock, Frack, Seemannsjacken mit Gürtel und Beinknöpfen, gelber Moleskin, Kammertuch und Serge –, hätten sie zwölf Fremde in einem Eisenbahnwaggon sein können, jeder von ihnen auf dem Weg zu einem anderen Viertel einer Stadt mit genug Nebel und Wasserläufen, um sie voneinander zu trennen; und wahrhaftig bewirkte die absichtsvolle Absonderung jedes Einzelnen, wie er über seiner Zeitung brütete, sich vorbeugte, um seine Tabakasche in den Kamin zu schnipsen, oder die gespreizte Hand auf den grünen Flanell legte, um den nächsten Billardstoß abzuwägen, ebenjene Art geradezu greifbarer Stille, wie sie spätabends in der Eisenbahn eintritt – doch hier nicht vom Schnaufen und Rattern der Wagen übertönt, sondern vom lauten Prasseln des Regens.«
Kurze Zusammenfassung des Inhalts: Der Schauplatz der Geschichte ist die Stadt Hokitika im wilden Westen Neuseelands in den späten sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ein Goldrausch beherrscht die Menschen der Gegend und auch der Schotte Walter Moody will sein Glück versuchen. Gleich nach seiner Ankunft wird er mitten hineingezogen in die Umstände eines ungeklärten Mordfalls.
Eleanor Catton lässt in zwölf Kapiteln jeweils eine Person von ihrer Sicht der Dinge berichten. Moody und auch der Leser müssen nun versuchen, diese Einzelteile zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen und die Fäden zu entwirren. Dabei ist nichts so, wie es scheint, denn oft wechseln die Perspektiven, wobei sich der vermeintlich Nette als Schurke erweisen kann und umgekehrt.
Die Hauptfiguren, die mit den zwölf Tierkreiszeichen assoziiert sind, bewegen sich in den zur besagten Zeit vorbestimmten Bahnen ihrer Sterne, wobei die Kapitel in Entsprechung der Mondphasen zum Ende des Buches hin immer kürzer werden.
Eleanor Catton erhielt für ihren zweiten Roman 2013 den mit 50.000 Pfund dotierten Man-Booker-Prize und brach damit gleich zwei Rekorde: Die damals 28-jährige Autorin war nicht nur die bislang jüngste Gewinnerin in der Geschichte des Preises, auch ist ihr Roman »The Luminaries« / »Die Gestirne« mit seinen 840 Seiten (deutsche Fassung 1.040) das bislang längste prämierte Buch.
»Writing is so mysterious, so human.«
Die junge Autorin, die am Manukau Institute of Technology in Auckland Kreatives Schreiben unterrichtet, erzählte, dass experimentelle, intellektuelle Romane auf sie oft sehr statisch, bewegungslos wirken und die Charaktere sich nicht genug entwickeln, wodurch die Romane in den meisten Fällen nicht sehr unterhaltsam seien. Eleanor Catton nahm sich vor, mit »Die Gestirne« einen experimentellen Roman zu schreiben, der auch noch Spaß macht. Ihrer Meinung nach ist die Vergangenheit gegenüber der Gegenwart als Erzählzeit und der Allwissende Erzähler der Ersten Person vorzuziehen, weil dadurch die Möglichkeiten des Autors viel interessanter und flexibler seien. In der ersten Person und der Gegenwart zu erzählen, setze dem Schriftsteller zu viele Grenzen, so Catton.
Die Neuseeländerin ist absolute Genre-Hasserin, denn auch ein Kinderbuch, ein Fantasy-Roman, eine Liebesgeschichte oder ScienceFiction können große Literatur sein, werden aber oft als reine Unterhaltungsliteratur abgewertet. Wie ich weiß, ist dies gerade in Deutschland fast immer der Fall. Über die heutige Bessenheit, immer eine Grenze zu ziehen und alles in Schubfächer zu stecken, ärgert Eleanor Catton sich sehr. Mit »Die Gestirne« machte sie sich zum Ziel, etwas Genreübergreifendes zu schreiben, was ihr laut vieler Pressestimmen auch gelungen ist.
Wie die Schriftstellerin erzählte, war es ihr möglich, anhand alter Zeitungen, die seit kurzem digitalisiert in einer Online-Bibliothek Neuseelands zur Verfügung stehen, ihre Recherche vorzunehmen. Außerdem hat sie alle Literatur des 19. Jahrhunderts gelesen, die ihr in die Finger kam. Susanne Weingarten leistete im Literaturhaus Schwerstarbeit beim Übersetzen, denn Eleanor Catton beantwortete alle Fragen in rasantem Tempo und sehr ausführlich. Es war eine wahre Freude, den beiden Frauen zuzuhören.
Ein Magazin vom btb Verlag zum Roman »Die Gestirne« finden Sie hier als pdf. Es enthält ein langes Interview mit der Autorin (sehr lesenswert), einen Artikel der Übersetzerin Melanie Walz, ein Verzeichnis der handelnden Personen des Romans, eine 60-seitige Leseprobe (Anfang des Romans) und die übersetzte Rezension von Bill Roorbach der New York Times, aus der ich Ihnen einen Auszug zitieren möchte:
»Die Lektüre ist sehr vergnüglich, fast so, als würde man ein Kreuzworträtsel zum Thema Charlotte Brontë lösen – was manche Leser zur Verzweiflung treiben, in anderen aber sportlichen Ehrgeiz wecken dürfte. Ich habe beide Wirkungen am eigenen Leib erfahren: In neidloser Bewunderung des unerschöpflichen Wissens und der hohen erzählerischen Kunst dieser jungen Neuseeländerin verlor ich manchmal den Faden, wünschte mir hin und wieder weniger kühle Distanz, genoss die gewollt altmodisch ausführlichen Kapitelüberschriften, staunte über das astrologische Fachwissen, recherchierte dauernd im Internet, kratzte mich ratlos am Kopf, lachte vor Begeisterung und seufzte vor Befriedigung, blätterte zurück und las mit neugieriger Erwartung gebannt weiter. […] »Die Gestirne« ist ein Buch, das Staunen macht. […] Die Seiten fliegen beim Lesen nur so dahin, eine Welt eröffnet sich vor unseren Augen und verschließt sich wieder, und die Seele der Menschen wird in all ihrer Widersprüchlichkeit enthüllt. Und in ihrer Größe. Was den Umfang betrifft, kann ich nur sagen, dass ein so fesselndes Buch gar nicht umfangreich genug sein kann.«
Schwarz-weiß Zeichnungen von Barbara Hilliam bereichern den Roman »Die Gestirne« / »The Luminaries« und erwecken den Eindruck, ein sehr altes Buch in Händen zu halten.
Auch die Übersetzerin Melanie Walz schulterte dieses Mammutprojekt mit Begeisterung und wird dafür sorgen, dass »Die Gestirne« auch deutsche LeserInnen in den Bann zieht.
Ein Foto der strahlenden Booker Prize Gewinnerin finden Sie hier auf der Flickr-Seite der Fotografin Janie Airey.
Fazit: Eleanor Cattons Roman »Die Gestirne« ist aufgrund der Goldgräber-Geschichte kein Buch, das mich sofort anspricht. Allerdings hat mich das Konzept der Autorin und das überwältigende Lob neugierig genug gemacht, um die Lesung zu besuchen. Es war eine Bereicherung, Eleanor Catton persönlich begegnet zu sein. Ihre Ansichten über Literatur und ihre Leidenschaft für diese war spürbar und teile ich in allen Punkten, daher freue ich mich nun sehr darauf, »Die Gestirne« zu lesen.
Herzlichen Dank an das Literaturhaus Hamburg für diese wunderbare Lesung.
Eleanor Cattons Roman »Die Gestirne« ist im November 2015 im btb Verlag erschienen – gebunden, 1.040 Seiten, EUR 24,99, ISBN 978-3442754793, übersetzt von Melanie Walz, mit 12 s/w Abbildungen.
Eleanor Cattons Roman »Die Gestirne« ist als Hörbuch erschienen, gelesen von Sascha Rotermund, der Hörverlag, 4 mp3-CD, 30 h 43 min, ISBN 978-3844519082.
Über die Autorin: Eleanor Catton wurde 1985 in Kanada geboren und wuchs in Christchurch, Neuseeland, auf. Sie studierte Englisch an der University of Canterbury und Kreatives Schreiben an der Victoria University of Wellington. 2008 nahm sie am Iowa Writers’ Workshop teil.
Bereits für ihren Debütroman „Anatomie des Erwachens“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Für ihren gut 1000 Seiten starken zweiten Roman „Die Gestirne“ wurde sie 2013 als jüngste Autorin aller Zeiten mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet. Eleanor Catton lebt in Auckland und unterrichtet Kreatives Schreiben am Manukau Institute of Technology.
Laila Mahfouz, 14. Januar 2016
Links:
Informationen zu Autor und Buch auf den Seiten des btb Verlages finden Sie hier.
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Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.