Sehr wenig ist bekannt über Dr. Shimamura, den japanischen Nervenarzt des 19. Jahrhunderts, der kaum Spuren hinterlassen hat, dennoch genügten ein paar rätselhafte Eckdaten Christine Wunnicke, um ihre Phantasie durch alle Stationen seines Lebens schweifen zu lassen und mit »Der Fuchs und Dr. Shimamura« einen der ungewöhnlichsten Romane des Jahres zu verfassen.
Text vom Buchumschlag: Vom Fuchs besessen, und das auch noch in Japan! Klarer Fall für Neurologen mit geschärftem Sinn für Menschen – vorzugsweise Frauen – neben der Spur. Dr. Shimamura (den es wirklich gab) reist in der Abendröte des 19. Jahrhunderts durch die Provinz, wo das burleske Krankheitsbild zur Folklore gehört. Ein liebestoller Student begleitet ihn, geht aber bald verloren, dafür fängt der Doktor sich selbst einen Fuchs ein (den es vielleicht auch gab). Da hilft nur noch Europa, und so flieht Shimamura auf Bildungsurlaub gen Westen, besteht neurologisch aufschlussreiche Abenteuer in Paris, Berlin und Wien. Allein, der Fuchs lässt ihn nicht los – auch nicht Jahrzehnte später zurück in Japan, wo sich dieses seltsame Leben, beäugt von allerhand weiblichem Familienanhang, seinem Ende zuneigt. Und so bleibt der Fuchs der unsichtbare Protagonist dieses fernöstlich getönten Gegenwartsromans.
»Paroxysmus«, sagte der Fuchs.
Er hatte eine raue, weise, alte Stimme. […] Aus den elliptischen Pupillen seiner dunkel bernsteinfarbenen Augen traf Shimamura Shunichi ein halb interessierter, halb schon gelangweilter Blick.
(Kapitel 4, Seite 39)
Im Jahre 1891 wird der junge Dr. Shimamura von seinem Neurologieprofessor in die Präfektur Shimane geschickt, um das seit dem 13. Jahrhundert überlieferte Phänomen der Fuchsbesessenheit, das fast nur bei Frauen auftritt, zu erforschen. Der Fuchs, japanisch Kitsune, dringt durch eine weibliche Körperöffnung ein und ergreift Besitz von Körper und Geist. Unter der Haut seines Wirts zeichnen sich seine Formen ab, doch will man ihn fangen, versteckt er sich, nur um wieder und wieder aufzutauchen, wenn nicht mehr mit ihm gerechnet wird. Mit Hilfe von sogenannten „Gefäßen“, die den Fuchs in einem Exorzismus-Ritual aufnehmen, versucht Shimamura, die Frauen zu befreien. Shimamura, der die – in seinen Augen sinnlose – Expedition als Strafe empfindet, vertraut eher auf die Lehren Wilhelm Griesingers „Pathologie der psychischen Krankheiten“, als sich mit der Fuchsgöttin Inari und anderem japanischen Aberglauben abzugeben. Er hält die in diesem heißen Sommer um sich greifende Epidemie der Fuchsbesessenheit schlicht für Weiberirrsinn. In Shimane findet er in der Fischhändlertochter Kiyo allerdings einen besonders schwerwiegenden Fall und erlebt etwas, das sein Leben für immer verändern wird.
Dann ging das Mädchen übers Dach.
Es glitt lautlos den First entlang, auf allen vieren, Hand über Hand, Zeh über Zeh.
In der Mitte des Daches […] blieb sie sitzen. Und putzte sich.
Mit der Zunge über die Pfötchen und mit den Pfötchen durchs Gesicht.
[…] sie zog ihre Menschenhaut aus, durch eine glatte Öffnung am Bauch,
und ihr Menschenhaar schüttelte sie auch ab und putzte sich, als sie befreit waren, die Ohren.
(Kapitel 4, Seite 42)
Dr. Shimamura und der ihm zur Seite gestellte Student versuchen zwei Wochen lang, Kiyo zu heilen, doch gelingt dies erst, als Shimamura beim Exorzismus selbst als Gefäß herhält und den Fuchs übernimmt. Die Erlebnisse dieses Sommers wird er nie vergessen, sind sie doch zu erschreckend und rätselhaft, um sie zu begreifen. Der Neurologe flieht nach Europa, verdrängt den Namen des Studenten, verdreht im Kopf immer wieder die Ereignisse, bis er selbst nicht mehr weiß, was wahr und was erfunden ist. Auf seinen Stationen in Paris, Berlin und Wien in den folgenden drei Jahren versucht Shimamura, dem Fuchs durch die Studie der Hysterie auf die Schlichte zu kommen, doch dies erweist sich als äußerst schwierig, obwohl er in Paris und Wien unter anderem diverse Gespräche mit Jean-Martin Charcot und Freuds Lehrer Josef Breuer führt.
»Ich glaube nicht de facto, in natura, in persona, in animale
an einen Fuchs oder Füchse in meinem Leib«, erklärte der Japaner,
»doch bleibt seit damals stets ein Gefühl bestehen,
dass mein Inneres nicht nur mir selbst gehört.«
(Kapitel 13, Seite 119)
Ein immer währendes Fieber, große Anziehungskraft für Frauen und sein Paroxysmus lassen Shimamura zeitlebens nicht los, doch er arrangiert sich ganz offensichtlich ebenso mit seinem füchsischen Untermieter wie seine Frau, seine Mutter und Schwiegermutter es tun. Nach Japan zurückgekehrt, schreibt er allerdings an die Stipendienkommission, dass das analytische Gespräch als Heilmethode für Hysterie unbrauchbar für Japan sei, da es dem japanischen Sinn für Höflichkeit widerspreche und außerdem zu lange dauere. Mit verwirrten Gedanken und unzuverlässiger Erinnerung versucht der alternde Shimamura, Sinn in sein Leben zu bekommen.
Was hat Christine Wunnicke da nur für eine wundersame Geschichte „ausgebrütet“ (siehe Interview unten)? Ein paar Eckdaten und auf ging es zu einer jahrelangen Reise ins Außen- und Innenleben Dr. Shimamuras. In einer der Zeit und dem Sujet angepassten Sprache und mit viel Humor erzählt die Autorin die Geschichte zwischen den scheinbar rationalen europäischen Studien der Hysterie und dem fernöstlichen Aberglauben. Kulturelle, sprachliche und füchsische Umstände erschweren Dr. Shimamura seine Studien und ermöglichen dem Leser einen tiefen Einblick in die Anfänge der Psychoanalyse Europas. Shimamura, der längst der Füchsin in seinem Innern verfallen ist, versucht fortwährend, seine japanisch sachliche Klarheit wiederzufinden und muss im Alter doch vor seiner Verwirrung kapitulieren.
Shimamura blickte zur Decke.
Die Frauen. Die Frauen. Die Frauen?
Kein einziger geschlechtlicher Gedanke kam Shimamura Shunichi zu Hilfe.
Die Frauen und ich. Was ist da passiert?
Fuchsgeist, sagte Shimamura Shunichi. Er sprach das Wort immer im Wiener Tonfall aus,
weil er es in Wien zum ersten Mal auf Deutsch gesagt hatte. Fuchsgähst.
Er lachte das kleine Lachen, das für dieses Wort reserviert war. Dann schlief er ein.
(Kapitel 1, Seite 15)
Christine Wunnicke lässt den Roman beginnen, als Shimamura schon im Ruhestand ist und sich an die Stationen seines Lebens zu erinnern versucht. In Rückblicken erfahren wir von all seinen Erlebnissen und müssen immer wieder innehalten, denn Shimamuras Fuchsgeist arbeitet mit Verdrängung, schlägt immer wieder Haken und ist nicht so zuverlässig, wie er meint.
Ein Funke sprang über. […] Doch Shimamura hatte sich so oft verschrieben und unversehens auf den Satz „Ein Fuchs sprang über“ gestarrt, dass er den Funken aufgab.
(Kapitel 9, Seite 76)
Grausam und dennoch großartig empfand ich Kapitel 8, in welchem von einer Art Verschwörung der Frauen in Shimamuras Haushalt (Ehefrau, Mutter, Schiegermutter, Hausmädchen) berichtet wird. Durch Manipulation von Shimamuras Erinnerungen halten die Frauen seine Verwirrtheit aufrecht und steigern diese sogar noch.
Fazit: Christine Wunnickes Roman »Der Fuchs und Dr. Shimamura« ist eine abenteuerliche und spirituelle Reise ins 19. Jahrhundert sowie in das fuchsbesessene Innenleben eines Nervenarztes. Wunnicke, deren Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015 stand, gelingt der Blick in die ihr fremde Welt so ausgezeichnet, dass die Fiktion zur Realität wird. Der Leser ist in all den Wirrungen zwar ebenso verloren wie Shimamura in Paris und in sich selbst, findet jedoch im mit feiner Ironie gewebten, von skurrilen Bildern und rätselhaft, mysteriösen Begegenheiten durchdrungenen Roman immer wieder Parallelen zur Wahrhaftigkeit. Nach mehreren überraschenden Wendungen wird am Ende der ganze Reichtum des Romans sichtbar, der in seiner Vielschichtigkeit aus der Anhäufung von Wiederholungen innerhalb heutiger Literatur herausragt. »Der Fuchs und Dr. Shimamura« kann ich allen Lesern empfehlen, die sich für Psychoanalyse und ihre Anfänge interessieren und unerklärlichen Phänomenen unvoreingenommen begegnen können. Christine Wunnicke ist ein feingesponnener Roman gelungen, der wesentlich mehr offenbart, als Rezensionen beschreiben können.
Über ihre Arbeit am Roman hat uns die Autorin noch ein paar Fragen beantwortet:
Kultumea: »Wie kam es, dass Sie Dr. Shimamura für sich als Romanfigur entdeckten?«
Christine Wunnicke: »Ich hatte mich, wie so oft, bei Google verlaufen (ungelogen!), und bin auf das Abstract des japanisches medizinhistorischen Artikels gestoßen, den ich auch vorne im Buch zitiere. (Nachzulesen hier.) Das ist dann auch eigentlich schon die einzige Quelle, die es zu dem armen langvergessenen Dr. Shimamura gibt.«
Kultumea: »Was fasziniert Sie an Dr. Shimamura und der Neurologie/Psychoanalyse vor 100 Jahren besonders?«
Christine Wunnicke: »Das steht im Buch :)«
Kultumea: »Wie erfolgte die Recherche zu diesem Roman? Waren Sie selbst in Japan?«
Christine Wunnicke: »Ich war nie in Japan, und im 19. Jahrhundert war ich auch nie. Ich recherchiere nur per Papier bzw. Pixeln.«
Kultumea: »Wie lange haben Sie an Ihrem Roman »Der Fuchs und Dr. Shimamura« gearbeitet?«
Christine Wunnicke: »Mehrere Jahre gebrütet, drei Monate geschrieben.«
Kultumea: »Wie sehen Ihre Pläne aus? An welchem/n Projekte/n arbeiten Sie gerade und wann können wir mit einem neuen Buch rechnen?«
Christine Wunnicke: »Bin ich zu abergläubisch, das zu beantworten. Man kauft ja auch keine Babyschuhe in der 5. Woche.«
Kultumea: »Herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen. Wir wünschen Ihnen und »Der Fuchs und Dr. Shimamura« auf jeden Fall noch viele Leser!«
Christine Wunnickes Roman »Der Fuchs und Dr. Shimamura« ist im März 2015 im Berenberg Verlag erschienen – gebunden, 144 Seiten, EUR 20,00, ISBN 978-3937834764.
Über die Autorin: Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München. Sie schreibt Hörspiele, biografische Literatur und Romane. 2002 erhielt sie für ihre Biografie des Kastratensängers Filippo Balatri, »Die Nachtigall des Zaren«, den Bayerischen Staatsförderungspreis für Literatur. Für den Roman »Serenity« bekam sie 2008 den Tukan-Preis, der Roman »Der Fuchs und Dr. Shimamura« – ihr zweites Buch im Berenberg-Programm – war 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert (Longlist).
Laila Mahfouz, 16. Dezember 2015
Links:
Die Website von Christine Wunnicke finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Christine Wunnicke auf der Seite des Berenberg Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
Eine Leseprobe zu »Der Fuchs und Dr. Shimamura« finden Sie hier. Den Anfang des Romans können Sie hier auch hören, denn zum Deutschen Buchpreis wurden alle Nominierten auf diese Weise vorgestellt.
Informationen zu Laila Mahfouz