Guðmundur Andri Thorsson erzählt in seinem Roman „In den Wind geflüstert“ von einem Mittsommerabend in dem isländischen Fischerdorf Valeyri und schürt das Fernweh nach dem Norden, in dem die hellen Nächte die Luft mit Poesie erfüllen.
Handlung (vom Verlag übernommen): Erwartung und freudige Erregung liegen in der Luft an diesem warmen Mittsommertag: Abends werden die meisten Dorfbewohner des kleinen Fischerdorfs Valeyri bei dem großen Chorkonzert auftreten. Chorleiterin Kata radelt durch die Straßen – in zwei Minuten, in denen alle Kata in ihrem blaugepunkteten Kleid vorbeifahren sehen. Zwei Minuten, in denen Geheimnisse und Erinnerungen, vergangene Lieben und Sehnsüchte sich zu einem vielstimmigen Gesang verbinden und in der Luft von Valeyri klingen: Die von Kalli, dem Solisten, der allein in seiner Werkstatt sitzt, umgeben von Geräten und Erinnerungen. Vom alten Papageitaucher-Lalli und seiner Schwester Lara, die heute zum ersten Mal seit Jahren wieder miteinander sprechen werden. Und von Pastor Sæmundur, der ein Bier aufmacht, während Gut und Böse um seine Seele kämpfen. In Valeyri kennt jeder jeden, die Lebenswege der Menschen sind untrennbar miteinander verbunden. Trotzdem weiß niemand, welche Erinnerungen und Geheimnisse sein Nachbar mit sich trägt, welche unterdrückten Gefühle unter der Oberfläche brodeln, welche Sehnsüchte und heimlichen Laster er hat.
»Er kommt vom Meer und streicht über die Landzunge. Wenn der Tag zu Ende geht, kriecht der Nebel langsam in den Fjord, wie er es immer tut im Sommer, tastet sich um die steinigen Hügel, späht hinter die Grasbuckel, gleitet ins Dorf, wo er die Hausecken ableckt, die Boote im Hafen streift und sich dann so weit hebt, dass ich in die Fenster schauen kann.«
Diese ersten Worte zogen mich sofort in den Bann und so las ich weiter und weiter und als ich am Ende des Buches angelangt war, musste ich von Neuem beginnen. Aber dazu später mehr.
Die Sprache des Romans hat mich berauscht. Guðmundur Andri Thorsson spinnt alle Lebensgeschichten der Dorfbewohner zu einem gemeinsamen Faden, den er nach und nach zu einem filigranen Tuch webt, das Valeyri sanft einhüllt wie der Nebel, der über die Landzunge streicht. Ein zarter Schleier, doch fest gewebt und untrennbar verbunden. Ein Roman voller Leichtigkeit und schwerer Traurigkeit zugleich. Auf nur 175 Seiten gelingt Guðmundur Andri Thorsson, was andere ihr Leben lang versuchen. Mich überrascht nicht, dass der Roman 2013 für den Nordic Council´s Literaturpreis nomiert war.
Die schönsten und die schlimmsten Geschichten erzählt das Buch von jedem Dorfbewohner, aber wer nur eine von ihnen liest, schaut auf einen einzelnen Puzzlestein, der glänzt wie ein Diamant, aber nie den Blick auf das ganze Bild preisgibt. Schon im ersten Kapitel, welches in der ersten Person verfasst ist, enthüllt sich alles, doch gänzlich begreift erst, wer auch das letzte Kapitel gelesen hat. Erst dann sind all die kleinen Geschichtchen, Geheimnisse, Sorgen und Freuden aller Dorfbewohner in allen Dimensionen erfassbar und ergeben einen Sinn, der zuvor verschlüsselt war. Jedes Kapitel erzählt die Geschichte eines Dorfbewohners, alle verbunden durch diese zwei Minuten, in denen Chor-Kata in ihrem blaugepunkteten Kleid zur Kirche radelt. Sie, die zugereiste Slowakin, ist es, die von allen gesehen wird, und sie ist es auch, mit der die eigentliche Erzählung beginnt. Ihr blaugepunktetes Kleid, das allen auffällt, ist mit ihr um die Welt und durch ihr Leben gereist. Es war in Trnava, Bratislava, Prag, Köln, Rotterdam, Moskau, Kopenhagen, Hamburg und Reykjavík, um nun die einzigartige Symphonie des Valeyri-Walzers zu dirigieren.
»Sie spürt, dass der Tag kommen wird, an dem ihr braunes Haar wieder rötlich glänzt.
Ihre Augen wieder leuchten. Sie wieder innerlich singt, wenn sie Klarinette spielt.
Wieder Leben in ihr Dasein kommt. Sie wieder geliebt wird.
Sie trägt das weiße Kleid mit den blauen Punkten, das sie an dem Tag gekauft hat,
als sie geliebt wurde.«
Danke, Herr Thorsson, dass sie mich ein Teil der Nebelschwaden sein ließen, die ungehindert in all diese Leben schauen konnten. Ich war dabei, als Smyrill das perfekte Gedicht für seinen Zyklus „Duft von Asche“ mit den Wellen herannahen spürte, während ich das poetischste Kapitel des Buches in vollen Zügen genoss. Ich fühlte mit Bangsi, der das Fliegen und das Fallen gleichermaßen in sich trägt, seit diesem Moment, da sein Vater in der „weißen und wundersamen Dimension“ verschwand und ich fühlte mit Gummi, der immer große Träume hat, die nicht in Erfüllung gehen, die er aber seiner Mutter Josá mit leuchtenden Augen erzählt, während sie in ihrer Einsamkeit von ihrer verlorenen Liebe zu seinem Vater träumt. Ich weinte um Svenni, der schon mit elf Jahren lernen musste, nichts zu spüren, damit er das ertragen konnte, was das Leben für ihn vorgesehen hatte und das wie ein Fluch auf ihm lastet. Ich habe erkannt, warum Menschen bleiben, die eigentlich schon lange gegangen sind und welche Fluchtwege sie nahmen. Ich betete für den Pastor, der gegen selbstgerufene Dämonen ankämpft und ich habe in eisblaue Augen gesehen, bevor sie erloschen. Sie und noch viele weitere Leben lagen vor mir wie eine Wiese voller Löwenzahn – ein paar blühen gerade erst auf, während andere als Pusteblume schon wieder verwehen.
Das letzte Kapitel ist dann wieder aus der Ich-Perspektive erzählt und als ich die letzten Worte gelesen hatte, erkannte ich plötzlich die ganze Patchwork-Decke, die Guðmundur Andri Thorsson ausgebreitet hatte und die Bilder waren so bunt und lebendig, dass etwas in meinem Kopf explodierte. Der Anfang ist auch das Ende und umgekehrt. Ich begann sofort, das Buch nochmals zu lesen, denn nun konnte ich alles noch viel schärfer sehen und verstehen.
»Ich komme vom Meer und streiche über die Landzunge, und bald werde ich mit dem Nebel fortgezogen sein. Ich bin die Nachmittagsbrise, besuche die Menschen gegen halb fünf und wehe eine Stunde später fort zu meinem Zuhause, das im Vergangenen liegt, im Gras, das vorhin aufwogte, in den Samen der Pusteblume, die an einen neuen Ort wirbeln, in den Falten von Katas Kleid, die auf ihrem Weg zum Gemeindehaus die Strandgata hinunterradelt.«
Das Titelmotiv ist gut gewählt. Ein kleines Segelboot inmitten undurchschaubaren Blaus. Es ist nicht zu sagen, wo das Meer aufhört und der Himmel beginnt und eben in dieser Zwielichtigkeit, in dieser nur scheinbaren Transparenz, welche das Bild ausdrückt, ähnelt es dem Roman. Eine Leichtigkeit inmitten der Schwere und Tiefe des Meeres. Nur ein Bewusstsein, nur Buchstaben, die umherwirbeln. Nur Nebel, der über die Landzunge streicht.
Fazit: Guðmundur Andri Thorssons Roman hat mich sehr begeistert und ich weiß, dass ich ihn wieder und dann noch einmal und abermals lesen werde. So viel Anmut und Poesie, soviel Melancholie und Schönheit entdeckt man nur selten. Eine Erzählung, die ich sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen konnte und von der ich wünschte, ich hätte sie geschrieben!
Guðmundur Andri Thorsson „In den Wind geflüstert“, gebunden mit 175 Seiten, erschienen im Hoffmann und Campe Verlag unter ISBN 978-3455403343. Übersetzt von Tina Flecken.
APPELL an den Hoffmann und Campe Verlag: Bitte, bitte lassen Sie auch Guðmundur Andri Thorssons Roman „Sæmd“ ins Deutsche übersetzen. Ich bin sicher, die deutschsprachigen Leser würden auch diesen Roman, der für den Isländischen Literaturpreis 2013 nominiert wurde, sehr gerne lesen. Ich wäre schon die erste auf der Liste!
Laila Mahfouz, 23. Juli 2015
Links:
Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf der Seite des Hoffmann und Campe Verlages hier.
Informationen zu Laila Mahfouz