29. März 2015: Gila Lustiger präsentierte ihren im Januar 2015 im Berlin Verlag erschienenen Roman „Die Schuld der anderen“ im Literaturzentrum Hamburg. Mit viel Charme und trotz leichter Heiserkeit erklärte die Autorin ihre Motivation zu Beschäftigung und Recherche mit dem Thema des Romans und las einzelne Passagen daraus vor.
Handlung (da es sich um einen Krimi handelt, bleibe ich dabei eher vage): Der erfahrene Aufdeckungsjournalist Marc Rappaport recherchiert zu einem 27 Jahre zurückliegenden Prostituiertenmord, der jetzt durch DNA-Abgleich gelöst sein soll und ihm doch viel zu viele Fragen offen lässt. Er versucht, mehr über die Geschichte der jungen Emilie zu erfahren, die mit 18 aus der Enge ihrer Industriekleinstadt nach Paris floh, um zu studieren und dort in die Prostitution schlitterte. Die junge Frau wollte mehr als dies einfache Leben in der Kleinstadt. Immer wieder weist der Roman darauf hin, dass es für Menschen, die nicht aus Paris kommen, fast eine Unmöglichkeit, ja, ein Skandal ist, etwas anderes mit ihrem Leben anfangen zu wollen als ihre Eltern – oder gar studieren zu wollen, wenn man aus der Arbeiterklasse stammt.
Auszug: »Und das war, wogegen sich Emilie aufgelehnt hatte, ohne die lautlosen, unsichtbaren Mechanismen zu erkennen, die Kinder dazu brachte, brav ihre gesellschaftlich vorgegebene Rolle zu erfüllen.«
Rappaport gräbt sich wie ein Maulwurf immer tiefer und tiefer in seine Recherche hinein und entdeckt einen Skandal von ungeheurem Ausmaß. Wie meistens heißt das Motto: „Follow the Money“! Wirtschaft, Geld und Politik sind in einem kriminellen Netz versponnen, das hier und da „Bauernopfer“ fordert, die als Bagatellen kaschiert werden. Wie ihr Protagonist hat auch Gila Lustiger bei der Polizei, im Gefängnis, in den Kleinstädten und den Vororten von Paris recherchiert. Sie hat mit Menschen gesprochen, die sich vom zentralistischen Paris ausgegrenzt fühlen. Mit Kriminellen, die in Frankreich geboren wurden, aber aufgrund ihrer afrikanischen Herkunft kaum eine Chance auf ein anderes Leben hatten. Die Autorin bezeichnete die Situation in den Kleinstädten Frankreichs als Apartheid. Handwerker, Arbeiter, sagt Lustiger, wählen aus Frust dann leider oft die rechtsextreme Partei Front National.
Auszug: »Waren sie wirklich dabei, sich eine Gesellschaft ohne Gewissen heranzuziehen, in der der archaische Impuls zu töten nicht mehr durch den verbietenden Gegenimpuls des Gewissens aufgehoben wurde?«
Beginnt der Roman noch als klassische Ermittlungsgeschichte, so wird er mehr und mehr zu einem der aktuellsten Gesellschaftsromane über das Frankreich von heute. Doch fassen wir uns an unsere eigene Nase. Das Erschreckende an diesem Buch ist, dass es leicht fällt, es auf Deutschland zu übertragen, wenn auch unser Land nicht so zentralistisch ist. Noch erschreckender ist, dass Gila Lustiger bei ihrer Recherchearbeit den Skandal des Buches wirklich entdeckt hat, es sich also nicht um schlichte Fiktion handelt.
Auszug: »Es gab keinen Rechtsweg, keinen Staat, keine regionale oder nationale Instanz mehr, die die Bewegungsfreiheit des Kapitals, die Freiheit des Marktes einschränken konnte. Es hatte eine Umverteilung der Macht stattgefunden und der Freiheit – weltweit.«
Die Autorin schaffte es leicht, mich auf den fast 500 Seiten des Romans zu fesseln. Immer neue Enthüllungen brachten immer neue Bestürzung und immer neue Erkenntnis darüber, wie skrupellos Machtmenschen werden können. Gila Lustiger wählte sehr bewusst hier das Genre des Kriminalromans, weil in unserer Zeit fast nur noch in Kriminalromanen die Gesellschaft so nackt und ungeschönt dargestellt wird. Zu Michel Houellebecqs aktuellem Roman „Unterwerfung“, der besonders gut zu diesem Thema passt, sagt Gila Lustiger, dass Houellebecq die Realität zuspitzt und daraus einen phantastischen Roman strickt, der in Deutschland zum Glück wesentlich positiver aufgenommen wurde als in Frankreich. Er hätte im Gegensatz zu ihr ein fiktives, phantastisches Szenario erschaffen. Ich bin gespannt auf den Roman und werde ihn wohl auch bald lesen und rezensieren.
An „Die Schuld der anderen“ hat mir auch besonders gut Lustigers schlichte und dennoch schöne Sprache gefallen und auch die Genauigkeit mit der selbst Nebenfiguren zu Worte kommen und als vielschichtige Personen entstehen. Einer meiner Lieblingscharaktere ist der Betriebsarzt, der zu diesen Gedanken inspirierte, die ich als absolut treffend bezeichnen kann:
Auszug: »Und plötzlich mit diesem gradiosen blauen Himmel über ihnen, kam er Marc wie ein alter Falter vor, der gegen die Glasscheibe flatterte, wieder und immer wieder.«
Anfang März stellte Denis Scheck in seiner Sendung „Druckfrisch“ Gila Lustigers Roman „Die Schuld der anderen“ vor.
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Fazit: Ein stellenweise fast philosophisch zu nennendes Buch. Richtungsweisend würde ich gern sagen, denn ich hoffe, dass es zutrifft. Kapitalismuskritik wie sie sein sollte! Fakten und Wahrheiten – schlichte Erkenntnisse, die jedem einleuchten müssen, der ehrlich zu sich selbst ist. Das Schöne am Lesen ist ja, dass wir mit unseren Gedanken allein sind und sie erst einmal mit uns selbst ausmachen können, ohne bewertet zu werden. Dieses Buch ist wie ein dreidimensionales Bild der Gesellschaft und eine wahre Bereicherung. Ich bin dankbar für jeden Autor, jede Autorin, der/die nicht zu bequem ist, auch mal den Finger in eine Wunde zu legen. „Die Schuld der anderen“ von Gila Lustiger ist eine klare Empfehlung von mir für alle, die über den Tellerrand schauen können/wollen.
Ich schließe mit dem vorn im Roman abgedruckten Zitat von Karl Marx:
»Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc., wo mit einem Wort ALLES Sache des Handels wurde.«
Gila Lustigers Roman „Die Schuld der anderen“ ist im Januar 2015 im Berlin Verlag für EUR 22,99 erschienen – gebunden, 494 Seiten, ISBN 978-3827012272.
Über die Autorin: Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, »Die Bestandsaufnahme«, erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. 2011 erschien »Woran denkst Du jetzt« und 2015 ihr neuer Roman »Die Schuld der anderen«.
Laila Mahfouz, 23. April 2015
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Weitere Informationen zu Gila Lustiger auf den Seiten des Berlin Verlages hier.
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